Literatur: Der Hunger seufzt

Nr. 49 –

Der Holodomor, meinen einige, sei unbeschreibbar: Das Elend und der millionenfache Tod, die Stalin über die Ukraine brachte, als er sie Anfang der 1930er Jahre systematisch aushungerte, entzögen sich jeglicher Sprache. Vergangene Woche hat der Deutsche Bundestag den Holodomor als Völkermord anerkannt.

Die Ukrainerin Tanya Pyankova hat über den Holodomor geschrieben. «Das Zeitalter der Roten Ameisen» heisst ihr Roman; die Insekten sind eine Metapher für Stalins Schergen, die die Bauern enteigneten und ihren Widerstand brachen: «Die roten Ameisen […] leeren unsere Kammern, unsere Truhen, unsere Taschen, nehmen uns unsere Mutter und Kinder, merzen uns aus, tilgen uns aus dieser Welt […].»

In der Ukraine kennt man Pyankova bereits als Autorin mehrerer Romane und Gedichtbände, ihr neuer Roman ist das erste Buch, das auf Deutsch erscheint. Sie kommt darin den psychischen und körperlichen Qualen ihrer hungernden Figuren sehr nah – so nah, dass man nach der Lektüre nicht nur anders über den Holodomor denkt, sondern auch grundsätzlich über den Wert des Essens. Erzählt wird aus vielen Perspektiven; manche stehen sich diametral gegenüber. Dusja stammt aus einer Bauernfamilie, die Hunger leidet. Solja dagegen müsste als Frau des ortsansässigen Parteivorstehers Ljoscha eigentlich nicht auf Essen verzichten, doch ist sie esssüchtig und soll in einem Sanatorium abnehmen – eine Konstellation, die das Geschehen doppelt bitter erscheinen lässt.

Pyankova hat sich etliche Zeitzeug:innenberichte angehört und zeitweise selbst auf Nahrung verzichtet. Wie viel sprachliche Akribie in dem Roman liegt, wird deutlich, wenn die Autorin den Hunger sprechen lässt, ihn personalisiert: «Der Hunger seufzt, stöhnt, kreischt, weint, sabbert, schreit, summt, bettelt, betet, verlangt, krampft […]. Er krümmt uns, stülpt uns um, spannt uns auf, wringt uns, mahlt uns, macht uns siech, quält uns, bricht uns.» Der Holodomor ist beschreibbar. Durch die Sprache kommt er einem manchmal sogar näher, als man das möchte.

Buchcover von «Das Zeitalter der Roten Ameisen»

Tanya Pyankova: «Das Zeitalter der Roten Ameisen». Aus dem Ukrainischen von Beatrix Kersten. Ecco Verlag. Hamburg 2022. 400 Seiten. 34 Franken.