Russische Propaganda: Das Halbwahre belegen, das Unwahre hinzuschmuggeln

Nr. 50 –

In der Wahrnehmung von Russlands Krieg gegen die Ukraine zeigt sich die Macht postfaktischer Narrative. Putins Propaganda ist auch für westliche Demokratien gefährlich. Sie zu unterschätzen, heisst, selbst zu ihrem Opfer zu werden.

Man mag sich darüber streiten, zu welchem Grad Propaganda die Schuld daran trägt, dass Russlands Bevölkerung den Kreml und seinen Krieg zu einem erstaunlich grossen Teil unterstützt, zumal sie plump, widersprüchlich und rückständig erscheint. Ihre Wirkung deshalb zu unterschätzen, erweist sich indes als gefährlicher Fehler, muss sie doch, wie die russischen Informationsdienste genau erkannt haben, gar keine konsistente Ideologie bieten – und schon gar kein durchweg kohärentes Narrativ. Sie braucht nur einzelne Deutungsangebote zu liefern, die ihre Rezipient:innen selbst zu einem Mosaik zusammensetzen und dann zu einem dogmatischen Weltbild betonieren können – ihren eigenen Interessen und individualpsychologischen Vorlieben gemäss. Ausserdem richten sich unterschiedliche propagandistische Inhalte an unterschiedliche Rezipient:innengruppen, an inländische oder ausländische, an informierte oder uninformierte, an extremistische oder moderate.

Die putinsche Ideologie bildet also – auch wenn in einer Rhetorik radikaler Härte vorgetragen – eine lose, variable Konstellation weltanschaulicher Leerformeln, flankiert von einem propagandistisch verbreiteten Repertoire semifaktischer und postfaktischer Irritationen. Gerade diese Mischung von halben Wahrheiten und ganzen Lügen kann fatale Effekte entfalten: Das Halbwahre wird belegt, das Unwahre hinzugeschmuggelt.

Patriarch Kyrill malt den Krieg als Kampf gegen die Mächte der Finsternis: Nazis und Satanisten.

So wird der ukrainische Präsident regelmässig als Clown bezeichnet, wie schon vor einem Jahr in der Sendung des propagandistischen Fernsehmoderators Wladimir Solowjow – als Beweis dafür gelten Ausschnitte aus Wolodimir Selenskis früheren Comedysendungen. Im Februar hatte Putin die ukrainische Führung eine «Bande von Drogenabhängigen und Neonazis» genannt, die «das gesamte ukrainische Volk als Geiseln hält». Seither wird Selenski auch als Drogenabhängiger dargestellt. Anzeichen für Stress – die bei einem Präsidenten eines kriegsgebeutelten Landes kaum verwundern sollten – werden dabei von vermeintlichen psychologischen Expert:innen als Symptome einer Drogenabhängigkeit gewertet. Oder aber man bezieht Interviewfetzen, in denen sich Selenski eigentlich über die Wirkung des morgendlichen Kaffees äussert, auf seinen angeblichen Drogenkonsum.

«Traditionelle Werte» über alles

Jenseits solcher persönlicher Diffamierung gibt es aber auch fundamentalere Fälle: Extreme Exempel, wie die Aufmärsche von Rechtsextremen beim Euromaidan 2013/14, dienen dazu, die Erzählung von der faschistischen Ukraine auf die Jetztzeit auszudehnen. Historische Kollaborationen mit den Nationalsozialisten bleiben zwar unbestreitbar, für die Gegenwart sind solche Vergleiche und Pauschalisierungen indes absurd. Sie ermöglichen ein entscheidendes propagandistisches Manöver: den aggressiven Angriffskrieg gegen die Ukraine mit dem Grossen Vaterländischen Krieg in Verbindung zu bringen, also dem sowjetischen Verteidigungskrieg gegen Nazideutschland, und so an dessen Heroik anzuknüpfen.

Fernsehpropagandist Solowjow spricht mittlerweile offen von einem «vaterländischen Krieg», und ein Leitpapier für Soldat:innen und andere, die an der «Militärischen Sonderoperation in der Ukraine» teilnehmen, verwendet sogar den Begriff «Grosser Vaterländischer Krieg 2.0». Darin mischen sich abermals Halbwahrheiten mit eklatanten Wahrheitsverkehrungen: «All die Länder, die jetzt Sanktionen gegen uns verhängt haben, führten seinerzeit Krieg gegen uns. Heute, in der Ukraine, wollen sie sich an Russland rächen – für unseren Grossen Sieg. Also handelt es sich um die Fortsetzung des Grossen Vaterländischen Krieges.»

Unverrückbares Gravitationszentrum dieser Propaganda ist die Erhabenheit des patriotischen Gedankens mit seinen «traditionellen Werten», die meist auch eine Berufung auf das orthodoxe Christentum implizieren.

Diese Werte machte Patriarch Kyrill, das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, in seiner Rede vom 25. Oktober ausführlich zum Thema. Zunächst malte er den Krieg gegen die Ukraine als Kampf gegen die Mächte der Finsternis. Damit spielte er auf ein aktuelles Stichwort an: die «Desatanisierung» der Ukraine, die seit neustem neben der «Denazifizierung» zu einem dezidierten Kriegsziel avanciert ist. Mit dieser Volte konnte die Invasion nunmehr nicht bloss als vaterländischer, sondern sogar als heiliger Krieg imaginiert werden, als Krieg des Geistigen gegen das Materielle, als ein Krieg der Werte.

Mal direkt, mal indirekt klagte Kyrill in seiner Rede die Ideen der Globalisierung, der Säkularisierung, der Minderheitenrechte, der freien Marktwirtschaft, des technologischen Fortschritts und des Transhumanismus an: Sie würden die Bedeutung der Kirche gefährden und eine Vermischung von Wahrheit und Lüge sowie von Gut und Böse bewirken. Als Beispiele führte Kyrill die Euthanasie sowie die gleichgeschlechtliche Ehe an.

Der säkulare «Globalismus» bilde die Voraussetzung für die Machtergreifung des Antichrist; die Menschheit müsse sich nun entscheiden und sich entweder diesem antichristlichen «Globalismus» zuwenden – oder aber den besagten «traditionellen Werten», für die Russland im Kampf gegen die westliche Welt einstehe. Zentral seien dabei die Liebe zur Heimat und die Opferbereitschaft, denn erst sie machten Heldenhaftigkeit möglich: «Unser Wohlstand beruht auf den Opfern früherer Generationen, derer, die im Krieg fielen, da sie das Vaterland verteidigten. […] Wir geniessen Güter, die dank der grossen Heldentat unseres Volkes erlangt wurden.»

Damit knüpfte Kyrill sowohl an die oben angesprochene Heroisierung des Sieges über Nazideutschland als auch an eine altehrwürdige Tradition an. Seit jeher wird der russischen Bevölkerung die Notwendigkeit von Opfern für Zar, Gott und Vaterland gepredigt. Heute will die Kirchenführung dieses Dispositiv für eine militärische wie psychologische Mobilisierung gegen die Ukraine bemühen, indem sie an die «traditionellen Werte» appelliert.

Die letzte Bastion

Nur zwei Tage später sprach auch Putin öffentlich über dieses Thema; dabei gab er folgende Definition: «Die traditionellen Werte bilden keine fixe Sammlung von Postulaten, die für alle verbindlich wären. […] Sie unterscheiden sich von den sogenannten neoliberalen Werten darin, dass sie in jedem einzelnen Fall einmalig sind, weil sie aus der Tradition der konkreten Gesellschaft resultieren, aus ihrer Kultur und ihrer historischen Erfahrung.» Auch an dieser Formulierung erkennt man, dass es sich um Leerformeln handelt, deren wichtigster Zweck darin besteht, reaktionäre Widerstandsreflexe gegenüber einem als hyperprogressiv empfundenen westlichen Liberalismus zu provozieren.

Wie die rechtskonservativen Parteien im Westen, die nicht ohne Grund vom Kreml lernen, kultivieren die Prediger:innen solcher Werte in Russland Autoritarismus, Konformismus, Antiliberalismus und Antiglobalismus. Für den Zerfall ihrer schönen alten Welt machen sie den «maroden Westen» verantwortlich, insofern dieser das christliche Abendland durch Toleranz gegenüber Einwanderung destabilisiere, klassische Geschlechterrollen und Familienbilder aushöhle und mittels ubiquitärer Demokratisierung die Staatsgewalt unterminiere. Sarkastischen Ausdruck finden diese Anwürfe in antiwestlichen Schimpfwörtern wie «Gayropa» oder «Liberasten».

In seiner Rede differenzierte Putin zwei Gestalten des Westens – eine traditionelle, patriotische, christliche, inzwischen auch islamische auf der einen und eine aggressive, kosmopolitische, neokoloniale auf der anderen Seite. «Mit der Diktatur dieses Westens wird sich Russland natürlich niemals abfinden», lautete das Fazit dieser Scheindifferenzierung.

Solche populistischen Deutungen der geopolitischen und geistesgeschichtlichen Komplexitäten beschwören einerseits eine äussere Bedrohungskulisse, andererseits stigmatisieren sie auch im Landesinneren unbequeme Positionen als westlich-antirussisch, unliebsame Personen als Westler und Landesverräterinnen. Bezeichnend für Letzteres ist die lange vor dem Krieg eingeführte offizielle Liste «ausländischer Agenten», die unabhängige Medien, kritische Organisationen und oppositionelle Personen diskreditieren soll. Umgeben von Aggressoren und infiltriert von Nestbeschmutzern, wird die «Russische Welt» so zur bedrohten letzten Bastion jener «traditionellen Werte», zu einer belagerten Burg, die Sturm, Chaos und Zerstörung trotzt. Die nach Westen orientierte Ukraine erscheint in diesem Kontext hingegen als das abtrünnige «Antirussland», das es zu bestrafen, «heimzuholen» oder aber zu vernichten gilt.

Zum einen wird dabei der Mythos vom ukrainischen «Brudervolk» aufrechterhalten. So betont Putin gern, dass «wir die Ukrainer lieben». «Früher oder später werden die Ukrainer wieder zu Russen, denn sie waren schon immer Russen», betont auch das Leitpapier für Soldat:innen. «Die militärische Spezialoperation wird enden, und dann werden die jetzigen ukrainischen Soldaten Schulter an Schulter mit den russischen Kämpfern Widerstand gegen den Westen leisten, der diesen brudermörderischen Krieg provoziert hat.»

Zum anderen tauchen für antirussisch orientierte Ukrainer:innen Begriffe wie «nebratja» (Nichtbrüder) auf. Das wirkt zwar in der Zusammenschau widersprüchlich, aber jede:r pickt sich aus dem grossen Märchenkuchen eben die zum eigenen Weltbild und zum jeweiligen Welterklärungsappetit passende Rosine heraus.

Wir und die anderen

Analog funktioniert die Trennung zwischen den «naschi» und den «ne naschi», also den «Unseren» und den «Nichtunseren». Die «Nichtunseren» in der Ukraine treten dabei wahlweise als «Faschisten», «Nazisten», «Drogenabhängige», «Liberasten» und neuerdings auch als «Satanisten» auf. An diese den Urtrieb der Sippenzugehörigkeit aktivierende Unterscheidung angelehnt ist auch der seit Kriegsbeginn wohl wichtigste propagandistische Slogan: «Die Unseren lassen wir nicht im Stich!»

Darin klingt auch ein anderer Ausruf an: «Naschich bjut!» (Man schlägt die Unseren!), in Russland seit jeher ein Appell zum Gemetzel. Mit der Annexion der Gebiete Luhansk, Donezk, Saporischja und Cherson hat Putin die Rede vom Angriff auf «unsere Leute» zum Mythos eines Überfalls auf «unser Land» geadelt.

Wenn die russischen Besatzer nun aus Cherson vertrieben werden, greift die offiziöse militärische Diktion diesen propagandistischen Mythos auf: In der öffentlichen Konferenz von Verteidigungsminister Sergei Schoigu und General Sergei Surowikin am 9. November wird der Rückzug aus Cherson als kluge taktische Entscheidung verbrämt, die den humanen Zweck verfolge, das Leben der Zivilbevölkerung und vor allem der russischen Streitkräfte nicht zu gefährden.

In solch zynisch pervertierter Verdrehung der Tatsachen offenbart sich in der Tat die vielgescholtene Plumpheit der Kremlpropaganda. Doch muss auch sie bei genauerer Betrachtung als wohlkalkuliert erkannt werden: Das Stereotype, Reduktionistische, Sloganartige und Flache wird vor das Komplexe, Reflektierte, Zweifelnde gesetzt, um Menschen zu emotionalisieren und aufzuhetzen. Natürlich ist dies kein russisches Spezifikum – doch darf ein solches Vorgehen in Russland auf besonderen Erfolg hoffen, weil Erziehung, Bildung und religiöse Praxis den Menschen von Kind auf Dogmatismus und Autoritätshörigkeit einprägen.

Ausserdem setzen die Propagandist:innen auf den Umstand, dass die Kosten individueller Meinungsbildung für Teile der Bevölkerung zu hoch sind, sowohl im materiellen wie auch im zeitlichen und psychologischen Sinn. Tatsächlich ändern zumindest einige Menschen ihre Meinung, sobald sie Zugang zu alternativen Informationsquellen erhalten. Insofern handelt es sich bei den propagandagläubigen Russ:innen auch nicht per se um die ultimativ Bösen; viele glauben tatsächlich, die Kriegshandlungen in der Ukraine geschähen zum Wohl der russischen, aber auch der ukrainischen Bürger:innen. Für diese Sichtweise liefern die propagandistischen Medien zahllose «Belege».

Der grosse Menschenfreund

Wenn uns im Westen diese «Belege» wiederum plump und vollkommen unglaubwürdig erscheinen, so müssen wir eine triviale, aber selten reflektierte Tatsache in Rechnung stellen: Auf uns wirken Inhalte russischer Staatssender genauso verquer, wie westliche Berichterstattung auf russische Opfer wirken würde. Denn eine Lieblingsmethode kremltreuer Propagandist:innen besteht darin, Botschaften der westlichen und der ukrainischen Agenda einfach auf den Kopf zu stellen. Putin selbst illustrierte dies im Anschluss an seine Rede, als er drei Stunden lang mit dem Auditorium ins Gespräch trat und sich dabei als Weltphilosoph, Demokrat, Antikolonialist, Rassismuskritiker, Menschenfreund und Bilderbuchliberaler in Szene setzte. Er sprach viel über den Frieden, über Verhandlungen, diplomatische Lösungen, trat für den Dialog der Völker ein.

Theoretisch abstrus, doch rhetorisch geschickt wandte er das terminologische Arsenal des Westens gegen diesen selbst: Der Westen negiere die Souveränität anderer Staaten und stelle seine Werte als universell dar, was einer «neorassistischen und kolonialen Verblendung des Abendlandes» entspringe. «Im Unterschied zum Westen mischen wir uns nicht in fremde Angelegenheiten ein.» Er wolle keine Vorherrschaft des Ostens etablieren, keine Hegemonie. Umgekehrt votiere er für Kooperation, für eine «multipolare Welt», in der jedes Land seine eigene Staatsform selbst bestimmen dürfe. «Ich bin überzeugt», so der russische Diktator, «dass man einer Diktatur nur die freiheitliche Entwicklung von Ländern und Völkern entgegenstellen kann.»

Tatsächlich wiederholt Putin hier fast wörtlich – nur etwas temperierter – die Gedanken seines Haus- und Hofphilosophen Alexander Dugin. In der Konkretion geht Putin aber teils sogar noch über den rechten Ultranationalisten hinaus: Nicht Russland, sondern der Westen provoziere einen Atomkrieg – Russland reagiere lediglich auf die westliche «nukleare Erpressung». Nicht Russland, sondern die Ukraine opfere bedenkenlos Leben – dort seien die Verluste bis zu zehnmal höher und ein Menschenleben nichts wert.

Sogar Dostojewski muss herhalten: «Ausgehend von schrankenloser Freiheit, ende ich mit unumschränktem Despotismus», zitiert Putin aus dem Roman «Dämonen» und meint natürlich nicht die eigene Despotie, sondern die Entwicklung des westlichen Liberalismus von freier Kunst und Rede hin zu einer «Cancel Culture», in der «jeder alternative Standpunkt als subversive Propaganda und Gefährdung der Demokratie erscheint».

Es ist also nur folgerichtig, wenn in Russland die Auffassung verbreitet ist, der Westen und die Ukraine seien Opfer von Propaganda. Die prorussische Nachrichtenplattform ukraina.ru warnt etwa, man dürfe den ukrainischen Kampf an der Informationsfront nicht unterschätzen, er werde vom Westen kuratiert, er verfahre systematisch, fast wissenschaftlich. Es existiere ein Organ, das für eine Flut von Fakes sorge, man kalkuliere Hunderte von Faktoren.

Entsprechend gibt es in Russland sogar TV-Sendungen, die vermeintliche – vereinzelt vielleicht auch tatsächliche – antirussische Fakes «aufdecken». Siebzehn Millionen derartiger «Fakes» sollen die zuständigen Institutionen seit Kriegsbeginn gezählt haben. Auf diese Weise gebärdet sich die Propaganda als Aufklärung. Die Staatsmedien zitieren Äusserungen der eigenen Multiplikator:innen als «Volkes Stimme» und berufen sich auf eigens eingesetzte Sachverständige. Sie inszenieren pseudodemokratischen Meinungspluralismus, indem regimekonforme Ideolog:innen untereinander Scheindebatten ausfechten, falsche Extreme vorspielen und den Kreml mit seinem Chef so bisweilen sogar moderat erscheinen lassen.

Auf diese Weise erschafft die Kremlpropaganda einen abgeschlossenen, selbstreferenziellen Raum, der reale Verhältnisse verschiebt, umkehrt, umdeutet oder zumindest in einen verqueren Kontext rückt. Stossen von der Propaganda indoktrinierte und von anderen Quellen abgeschnittene Personen vereinzelt dennoch auf Fakten, die ihren Vorstellungen zuwiderlaufen, beseitigen sie die entstehende kognitive Dissonanz meist zugunsten der tiefer liegenden Glaubenssätze – etwa dass Gott und das Gute stets auf der Seite der «Unseren» seien. «Das Wichtigste: Gott ist mit uns!», souffliert auch das Leitpapier für Soldat:innen.

Hinzu kommen breite Bevölkerungssegmente, die zwar Zugang zu unabhängigen Informationen haben und der russischen Propaganda womöglich sogar misstrauen – eine Medienlandschaft der Beliebigkeit gewohnt, misstrauen sie jedoch schlichtweg allen Nachrichten. «Der Kreml lügt, natürlich, aber die Ukraine und der Westen sind auch nicht besser», heisst es dann, worauf die klassischen Whataboutismen folgen. Auf der anderen Seite haben auch Figuren wie Donald Trump dieser Vorstellung Vorschub geleistet.

Fundamentale Tatsachenskepsis

Die russische Propaganda ist also keinesfalls rückständig: Sie provoziert bewusst fundamentale Tatsachenskepsis. Auf dem Gebiet der Verwirrung waren die russischen Geheimdienste schon immer führend. Mit der Einrichtung der berüchtigten Trollfabriken haben sie sehr früh ihr tiefgreifendes Verständnis langfristiger Desinformationsstrategien und planmässiger Wahrheitserosion unter Beweis gestellt. Kaum jemand hat aus dem Anbruch des «postfaktischen Zeitalters» so konsequente und so perfide Schlüsse gezogen wie die putinistischen Propagandist:innen – wenn sie dieses Zeitalter nicht sogar selbst mitinitiiert haben.

Im Übrigen ist die Vorstellung, dass russische Propaganda schwach sei, selbst Teil ebendieser Propaganda. Während über die Schwächen realer Kriegsführung in regimetreuen Medien kaum je gesprochen wird, diskutiert man dort verdächtig breit, warum die russische Propaganda so sehr hinter der ukrainischen und westlichen zurückstehe, warum man dafür keine Spezialist:innen, keine Behörden, kein ausreichendes Budget habe. Man geriert sich als stark auf dem Schlachtfeld und schwach im medialen Bereich: «Die beste Antwort auf die informationellen Provokationen der Ukraine sind reale Siege auf dem Schlachtfeld», dekretiert der – übrigens in Odesa geborene – Duma-Abgeordnete Anatoli Wasserman. Durch eine solche Brille gesehen, erscheinen die medial vermittelten Erfolge der Ukraine als reine Nebelpetarden.

Andere Populist:innen wiederum verlangen, man müsse den Informationskrieg «genauso professionell führen wie der Westen». Immer wieder wird dabei die Forderung nach einer neuen Behörde laut, die auf – vermeintliche – Falschmeldungen unverzüglich zu reagieren hätte. Als eine Art «informationeller Generalstab» soll sie einzig dem Präsidenten unterstellt sein und über ausserordentliche Befugnisse verfügen – unter anderem, ohne Gerichtsbeschluss die Aktivitäten von Presseorganen, Internetseiten und sozialen Netzwerken kontrollieren oder gar unterbinden zu können.

«Alles, was aus Russland kommt, sind ‹Intrigen des Kreml›», entrüstete sich Putin in seiner Oktoberrede, «sind wir etwa so allmächtig?» Es liegt ganz im Interesse des Kreml, die Wirkungskraft der eigenen Propaganda gegenüber der fremden herunterzuspielen und die Menschen im Glauben zu lassen, man beherrsche dieses Spiel nur schlecht: So erscheint es stets glaubwürdiger, dass eigene Nachrichten wahr, fremde hingegen manipuliert und manipulativ sind.

Die Propaganda des Kreml ist perfide, toxisch, pandemisch; sie wirkt weit über die Grenzen Russlands hinaus und gefährdet auch die westlichen Demokratien. Sie zu unterschätzen, heisst, selbst zu ihrem Opfer zu werden.

Alexander Estis, 1986 in eine jüdische Familie in Moskau geboren, lebt als Schriftsteller und Kolumnist in Aarau. 2021 erschien sein «Handwörterbuch der russischen Seele» bei der Parasitenpresse Köln.