Sozialer Fortschritt: «Plötzlich, beim 40. Schlag vielleicht»

Nr. 51 –

Bundeshausstadt, Generalstreikzentrale, Geburtsort der modernen Schweiz: Stationen einer Zugfahrt. Anlass: Rücktritt des St. Galler SP-Ständerats Paul Rechsteiner. Mitreisende: die Berner SP-Nationalrätin Tamara Funiciello. Thema: die Rolle der Linken in der Schweiz.

Paul Rechsteiner sitzt im Zug gegenüber Tamara Funiciello
«Als ich ins Parlament kam, war ich der Erste, der ohne Krawatte auftrat»: Paul Rechsteiner (70).

Bahnhof Bern, Gleis 12, Freitag, 9. Dezember, 9.30 Uhr. Tamara Funiciello wartet schon auf dem Perron. Kurz vor der Abfahrt erscheint zügigen Schrittes auch Paul Rechsteiner. Kaum sind alle im Zweitklassabteil angekommen, beginnt das Gespräch.

WOZ: Herr Rechsteiner, Frau Funiciello, zwei Tage nach der Bundesratswahl: Was geht Ihnen da durch den Kopf?

Paul Rechsteiner: Das System mit 246 individuell wählenden Parlamentarier:innen ist ja an sich schon komplex. Was die Parteien sagen, ist wichtig, aber nicht bestimmend, man schreibt ja geheim auf. Links und rechts, aber auch persönliche Faktoren spielen eine Rolle. Es ist also kein Zufallsgenerator, der die überraschende Wahl von Elisabeth Baume-Schneider produziert hat. Tamara, wie hast du die Wahl erlebt?

Tamara Funiciello: Ich habe dieses Theater zum ersten Mal mitgemacht. Und es ist klar komplexer, als es manche Medien beschrieben haben. Ich habe es aber noch nicht ganz verarbeitet.

«Gestern hat mir einer das Sexualstrafrecht gemansplained. Ich dachte: Kollege, ich habe das Gesetz mitgeschrieben.»
Tamara Funicello

Rechsteiner: Seit ich 1986 Nationalrat wurde, habe ich 27 Bundesrät:innen gewählt oder nicht gewählt. Eine Zäsur war die Nichtwahl von Christiane Brunner 1993 – ab da war die SP die Gleichstellungspartei.

Funiciello: Es ist aber erschreckend, wie wenig sich getan hat. Im Vorfeld der Wahl hat niemand darüber geschrieben, dass die SVP es immer noch nicht schafft, eine einzige Frau für den Bundesrat zu portieren.

Rechsteiner: Auch die Art Häme ist gleich geblieben. Bei keiner bürgerlichen Parlamentarierin würde man es sich erlauben zu sagen, sie sei einfältig, wie es bei Baume-Schneider geschah, Stichwort «Honigkuchenpferd». Und jetzt hat sie das Justizdepartement, ein Ministerium mit grossem gesellschaftspolitischem Potenzial.

Tamara Funiciello mit überlegendem Blick im Zug
«Klimapolitik ohne Kapitalismuskritik: Was bleibt dann noch übrig? Gärtnerei?»: Tamara Funiciello (32).

Was halten Sie von der These, die Städter:innen seien im Bundesrat nicht mehr repräsentiert?

Funiciello: Eine komische Diskussion! Du kannst in der Stadt leben und stockkonservativ sein – oder in einem ländlichen Gebiet sehr weltoffen.

Rechsteiner: Das Land wird oft unterschätzt. Die Schweiz ist viel interessanter, als es von der SVP bemühte Bilder aus der Vergangenheit vorgaukeln. Und der Jura, eine der am frühsten industrialisierten Regionen, war nie rein ländlich. Dass es den Kanton überhaupt gibt, hat ja auch mit dem Rebellischen zu tun. Im März 1990 fand mit der Forderung «Schluss mit dem Schnüffelstaat» die bislang wohl virulenteste linke Demo vor dem Bundeshaus statt – an ihrer Spitze: die Jurassiens. Die Béliers, die Autonomen also, versuchten, sich mit dem Rammbock Zugang zur Bundesanwaltschaft zu verschaffen. Damals war der Kanton Jura noch sehr jung; jetzt wurde er ins Zentrum der Macht gespült.


10 Uhr. Olten. Ein paar Schritte, und schon sind wir im «Flügelrad», der einstigen Eisenbahnerbeiz. Warum Olten? Rechsteiner klärt auf.

Rechsteiner: Der Generalstreik 1918 war sicher das grösste innenpolitische Ereignis des 20. Jahrhunderts und der Achtstundentag der erfolgreichste Punkt im Programm des Oltner Aktionskomitees. Das ist bis heute wegweisend! Im Kampf um die Interpretation ist die Bedeutung aber lange verdrängt worden. Aus bürgerlicher Sicht war das der Versuch einer Sowjetisierung – und der Einsatz der Armee die Rettung der Schweiz.

Funiciello: Der Generalstreik ist bis heute ein zentraler Orientierungspunkt für die Linke. Schon in meiner Juso-Zeit forderten wir die 25-Stunden-Woche. Ich bin überzeugt: Die Arbeitszeit wird die grosse Auseinandersetzung der Zukunft zwischen Links und Rechts sein. Der Kampf für deren Verkürzung vereint Arbeitskampf, feministische und Klimabewegung. Mir bleibt da noch ein Satz aus der Rede von Simonetta Sommaruga zum Generalstreik in Erinnerung: «Am Anfang waren die Frauen» – im Kampf noch vor dem Herbst 1918 um die damaligen Brot- und Milchpreise.

«Ohne soziale Orientierung ist die Linke erledigt, das hat sich überall gezeigt.»
Paul Rechsteiner

Rechsteiner: Auch mit dem zweiten grossen Bewegungsereignis im 20. Jahrhundert, dem Frauenstreik 1991, begann eine völlig neue Geschichte. Auch er wuchs aus der Gewerkschaftsbewegung – ausgehend vom Vallée de Joux im Waadtländer Jura. Dass die SP danach zur Gleichstellungspartei wurde, wäre ohne diesen Streik unmöglich gewesen.

Funiciello: Die SP ist aber nicht erst seit dem Streik 1991 eine feministische Partei. Die Frauenbewegung hat in den 1910er Jahren bewusst die SP als verbündete Partei gewählt – und prägt sie bis heute mit. So gelang uns beim Frauenstreik 2019, endlich die Care-Arbeit ins Zentrum zu stellen. Das ist einer der grossen Unterschiede zum bürgerlichen Feminismus. Wir müssen als Linke den Begriff der Arbeit feministisch ausweiten. So können wir auch als Gewerkschaften mehr Frauen erreichen. Für viele Frauen, zum Beispiel im Detailhandel, ist die Arbeitszeit der Moment der Politisierung, weil sie auch noch Betreuungsarbeit zu Hause leisten. Ich habe das als Gewerkschaftssekretärin erlebt: Tiefe Löhne waren selten ein Grund zum Streik – aber bei einem zusätzlichen Sonntagsverkauf gingen sie auf die Barrikaden.

Welche Rolle spielt hierzulande der Streik als Kampfmittel?

Rechsteiner: Bis nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in der Schweiz phasenweise oft gestreikt. Dann wurde der Streik weitgehend tabuisiert und der Arbeitsfrieden zum Nationalmythos erhoben. Die Basis davon war aber der materielle Wohlstand, und damit verbunden ging es mit den Arbeitsbedingungen rasant vorwärts. In den Neunzigern begann es mit dem Druck durch den Neoliberalismus zu drehen. Die Gewerkschaften mussten sich das Kampfmittel des Streiks wieder aneignen. Grosse Symbolwirkung hatte der Streik in der Basler Zentralwäscherei im Jahr 2000 im Kampf gegen eine Auslagerung, mit der eine massive Lohnsenkung verbunden gewesen wäre. Das hatte eine elektrisierende Wirkung!

Im Vergleich zu anderen Ländern wird aber immer noch wenig gestreikt. Sind die Schweizer Gewerkschaften zu brav?

Funiciello: Ich selbst bin mit siebzehn durch einen Streik politisiert worden. Mein Vater, der in der Wifag-Maschinenfabrik arbeitete, hatte gestreikt und verlor dabei den Job. Man darf das nicht romantisieren: Der Druck auf die Angestellten und ihre Familien ist enorm. Das ist kein Plädoyer gegen den Streik, er ist unsere wirkungsmächtigste Waffe. Aber ich habe ein wenig Mühe, wenn Leute sagen: «Toll, ein Streik.» Wenn du mittendrin steckst, sieht es anders aus.

Rechsteiner: Der Streik ist ja ein Mittel, kein Ziel. Am wirksamsten ist die Streikdrohung, wenn sie glaubwürdig ist.

Funiciello: Wobei der Streikbegriff noch immer sehr männlich geprägt ist. Auch der feministische Streik war ein Streik – auch wenn er sich nicht gegen eine Firma richtete. Wenn wir den Begriff der Arbeit ausweiten und anerkennen, dass die unbezahlte Arbeit der grösste Teil ist, muss man den Streik gesamtgesellschaftlich verstehen.

Rechsteiner: Es gibt die Legende, es gebe keinen politischen Streik. Aber Frauen- und Generalstreik waren politische Streiks – mit dem Ziel politischer Veränderungen. In der Schweiz war zum Glück nie ein Streik zur Verteidigung der Demokratie nötig. Das politische System lässt eine enorme Vielfalt an Beteiligungsmöglichkeiten zu. Auch Demonstrationen können eine grosse Wirkung haben, zum Beispiel jene der Bauarbeiter gegen das Saisonnierstatut 1990. Die vorher stark an Schweizern orientierten Gewerkschaften haben sich enorm geöffnet, mit vielen Migranten und auch anarchosyndikalistischen Traditionen aus der Westschweiz. Dass gewerkschaftliche Demos so gross geworden sind, ist keine Selbstverständlichkeit.

Funiciello: Und doch bin ich konsterniert, wenn ich an die Radikalität und die Breite der Frauenstreikbewegung von 2019 denke. Und jetzt, dreieinhalb Jahre später? Seit 2014 gibt es ein Gesetz zur Lohngleichheit, aber nicht einmal das ist umgesetzt. BVG-Reform, AHV, Lohngleichheit, all die Vorschläge, die wir brachten: gescheitert an der rechten Mehrheit.

Rechsteiner: Welch langen Atem Veränderungen brauchen, illustriere ich gern mit der Schriftstellerin Annette Hug am Beispiel des Holzens: Man schlägt einmal drauf. Nichts bewegt sich. Zweimal: wieder nichts. Plötzlich, beim 40. Schlag vielleicht, fällt alles auseinander.


Bevor es in der Südostbahn weitergeht: Verpflegung. Heute im «Flügelrad»: Tomatensuppe.

Olten, Gleis 3, 12.30 Uhr: Abfahrt Richtung Schänis.

Wie erleben Sie beide das Spannungsfeld zwischen Parlament und Bewegung?

Funiciello: Wichtig scheint mir, dass man sich der Grenzen des Parlamentarismus in einem bürgerlichen Land bewusst ist und daher gleichzeitig mithilfe der Bewegungen Druck aufbaut, der wiederum dazu führt, dass man im Parlament erfolgreich wirken kann. Das ist uns in letzter Zeit teilweise gelungen. Wie kürzlich im Sexualstrafrecht: Ohne den Druck der feministischen Bewegung wären diese Fortschritte nicht möglich gewesen.

Rechsteiner: Die SP ist im Vergleich zu anderen sozialdemokratischen Parteien in der westlichen Welt besser unterwegs. Italien ist ein Drama, Frankreich ebenso, und auch die einst so stolze SPD hat sich fast selbst zerstört. Was jetzt eine erfreuliche Geschichte ist: der Generationenwechsel, der auch im Parlament angekommen ist. Die feministische Bewegung hat die Partei stark geprägt. Die Medien hätten gerne eine gezähmte SP, die sich von den Gewerkschaften entfernt, als pazifizierten Teil des bürgerlichen Paradigmas. Ohne soziale Orientierung ist die Linke aber erledigt, das hat sich überall gezeigt.

Funiciello: Ich habe mich auch darum für die SP entschieden, weil sie nicht eine Frage priorisiert, sondern die Fragen im Kampf gegen diesen Machtknoten aus Kapitalismus, Sexismus, Rassismus und anderen Ausbeutungsformen verknüpft. Gleichstellungspolitik ohne Klassenkampf ist im besten Fall Teppichetagenfeminismus. Klimapolitik ohne Kapitalismuskritik: Was bleibt dann noch übrig? Gärtnerei? Handkehrum ist eine Gewerkschaftsbewegung ohne Antirassismus und Antisexismus exklusiv – «Identitätspolitik» ist ein rechter Kampfbegriff.

Tamara Funiciello und Paul Rechsteiner in der ehemaligen Eisenbahnerbeiz Flügelrad beim Oltner Bahnhof
 «Der Generalstreik ist bis heute ein zentraler Orientierungspunkt für die Linke.» – «Und auch mit dem zweiten grossen Bewegungsereignis im 20. Jahrhundert, dem Frauenstreik 1991, begann eine völlig neue Geschichte»: Tamara Funiciello und Paul Rechsteiner in der ehemaligen Eisenbahnerbeiz Flügelrad beim Oltner Bahnhof.

Und wie steht es mit dem Verhältnis zu Bewegungen weitab von den Institutionen?

Rechsteiner: Ich bin katholisch aufgewachsen und war Ministrant. Da wollte ich nicht aus einer Kirche aus- und in eine neue eintreten. Die linken Sekten in den Siebzigern waren darum nichts für mich. Inzwischen haben die Institutionen enorm an Legitimation gewonnen. Gewerkschaften nehmen Einfluss aufs politische System, wenn es um Renten oder um den Service public geht. Parteien aber haben natürlich einen viel umfassenderen Anspruch.

Funiciello: Für mich ist die Kritik von links aussen sehr wichtig. Setzt man sich dem nicht aus, wird man intellektuell faul. Ich habe den Anspruch, das Parlament als Ort der Macht zu nutzen, um etwas zu verändern, wie beim Sexualstrafrecht. Aber ich will gleichzeitig auch eine Bewegung aufbauen, die die dringend notwendige Transformation der Gesellschaft vorantreibt, die Machtfragen stellt.

Rechsteiner: Vielleicht bin ich da hyperpragmatisch. Aber wenn wir zum Beispiel schauen, was in den vergangenen Jahren beim Verkehr gelungen ist, dass wir so eine starke Bahn haben: Das sind parlamentarische Weichenstellungen, die unsere Lebenswelt prägen. Wie die Städte aussehen, die Umwelt überhaupt aussieht, all das wird mit politischen Entscheiden getaktet. Oder die AHV als Herzstück des Sozialstaats: Das ist ein Stück konkretisierter Sozialismus.

Funiciello: Absolut einverstanden! Ich bin ja nicht links geworden, weil ich mich hingesetzt und ein Buch gelesen habe. Sondern aus Notwendigkeit. Ich sass am Küchentisch, es war klar, dass mein Vater den Job verliert. Ich habe mich gefragt, wie es sein kann, dass zehn Leute die Macht haben, zu entscheiden, was mit Tausenden von Leuten passiert. Und ich bin nicht Politikerin geworden, weil das mein Traumjob war – sondern weil ich mir überlegt habe, wo ich am meisten erreichen kann. Als Gewerkschaftssekretärin bin ich ständig an die Grenze des Arbeitsrechts gestossen. Aber das ist nun mal der Rahmen, in dem wir uns bewegen. Ich dachte: Gut, dann muss ich halt den Rahmen ändern.

Rechsteiner: Die Linke muss fix sein, wenn sie auf der Höhe bleiben will – in der Wahrnehmung dessen, was sich konkret abspielt. Aber sie muss auch offen für eine Neuorientierung sein. 1985 war ich in der Sowjetunion, da hat sich niemand vorstellen können, dass die sechs Jahre später implodiert. Seit dem 24. Februar ist wieder alles vollkommen anders. Eine Linke, die nicht bereit ist, sich auf Lernprozesse einzulassen, hat den Namen nicht verdient.

Sprechen wir vom politischen Handwerk. Was ist die Methode Funiciello, was die Methode Rechsteiner?

Funiciello: Nun, wir können nicht gleich auftreten – würde ich auftreten wie Paul, man würde mir gar nicht zuhören als junger Frau mit Migrationserfahrung.

Rechsteiner: Täusch dich nicht. Als ich ins Parlament kam, war ich der Erste, der ohne Krawatte auftrat, und der Hass, den ich auf mich zog, war heftig. Es war unvorstellbar, dereinst Ständerat zu werden. Es ist wichtig, Positionen in der nötigen Schärfe formulieren zu können. Und natürlich auch, in den entscheidenden Kommissionen zu sitzen.

Funiciello: Inwieweit wir Macht ausüben, hängt aber auch davon ab, wie wir wahrgenommen werden. Es gibt Leute im Parlament, die sind überrascht, dass ich lesen und schreiben kann. Ich muss immer erst beweisen, dass ich weiss, wovon ich rede. Gestern an einer Weihnachtsfeier hat mir einer das Sexualstrafrecht gemansplaint. Ich sass da und dachte: Kollege, ich habe das Gesetz mitgeschrieben.

Rechsteiner: So erlebst du es?

Funiciello: Du unterschätzt das.

Rechsteiner: Bis man Einfluss ausübt, dauert es, Erfahrung spielt eine grosse Rolle. Auf eine geschriebene Regel kommen neun ungeschriebene. Ein Faktor ist natürlich auch Dossierkompetenz, man muss Professionalität als Anspruch verstehen.

Was aber, wenn man als linke, migrantische Frau zehnmal dossierkompetenter ist und trotzdem nicht weiterkommt?

Rechsteiner: Die Linke hat da eine grosse Chance. Aber ist die SP imstande, sich hinsichtlich der Vertretung von Migrant:innen zu erneuern, wie es mit der Frauenvertretung im Parlament passiert ist? Ein wichtiger Teil meines politischen Vermächtnisses ist mein letzter Vorstoss, das Ius soli, der Schweizer Pass für alle in der Schweiz geborenen Menschen. Vorerst ohne jede Chance, aber bewusst im Ständerat gesetzt. In der Schweiz sind wir beim Bürgerrecht extrem rückständig. Staatspolitisch der grösste Skandal! Das zu ändern, ist eine Generationenaufgabe – und zwar offensiv. Wenn du die Politik nur als Kunst des Möglichen betrachtest, kommst du nicht weiter. Politik ist die Kunst des Unmöglichen. Mit dem Vorstoss habe ich versucht, das Feld neu abzustecken. Gelingt es, wäre das ein fundamentaler Neustart für die Schweiz.


14.05 Uhr: Ankunft in Schänis SG. 420 Meter über Meer, 4000 Einwohner:innen. Hier kam es an der Landsgemeinde am 2. Mai 1847 zu einer hauchdünnen Mehrheit der Liberalen Partei, sodass das bis dahin katholisch dominierte St. Gallen zum entscheidenden Kanton für die Auflösung des Sonderbunds wurde. Tatort: der Rathausplatz, ein unscheinbares Plätzchen.

Rechsteiner: Hier auf diesem Platz ist die moderne Schweiz entstanden. Man muss das auch ein bisschen mit Philosophie aufladen: Wenn es ist wie immer, haben wir keine Chance, aber es ist nicht immer wie immer. Der Witz ist: Die Erfolgsgeschichte von Schänis wurde verdrängt, weil die konservativen Katholiken danach wieder gewonnen haben. Sie waren gar nicht stolz darauf, dass hier die Geschichte der modernen Schweiz angefangen hat. Das zeigt, dass durch ein Ereignis – wie die Wahl von Baume-Schneider – an einem unerwarteten Ort eine neue Dynamik entstehen kann: Plötzlich ist es Schänis. Die Gegend hier ist aber auch aus einem anderen Grund interessant: Die Linthkorrektion Anfang des 19. Jahrhunderts war das erste grosse Werk der Helvetik. Und das Glarner Fabrikgesetz 1864 europaweit das erste Gesetz, das Kinderarbeit verbot und Höchstarbeitszeiten einführte. Im «Kapital» von Marx ist das prominent erwähnt.

Funiciello: Womit wir wieder am Anfang sind: Die Vorstellung, dass die grossen Entwicklungen nur in Städten stattfinden, stimmt nicht.

Rechsteiner: Die Schweiz war auch ein dynamischer Ort für die Entwicklung des Arbeitnehmerschutzes – bis hin zur Gründung der Internationalen Arbeitsorganisation ILO. Diese wurde mit Konferenzen in der Schweiz vorangetrieben. Und 1847/48 fand die europaweit einzige erfolgreiche Revolution in der Schweiz statt. Darum sind viele Revolutionäre hierhergeflüchtet. Und die Schweiz hat gegenüber den Potentaten das Asylrecht verteidigt. An diese progressive Geschichte kann die Schweiz von heute anknüpfen.

Paul Rechsteiners Hand auf dem Zugsessel

Wenn wir in die Zukunft blicken: Wie sehen Sie die Schweiz in Europa?

Rechsteiner: Das Verhältnis zur EU ist sicher eine grössere Baustelle. Man muss allerdings ein paar Punkte definieren, die in einer progressiven Logik auch europäisch gedacht sind. Dazu möchte ich noch eine Geschichte erzählen: Die Bahnlinie Zürich–München, ein grosser Sprung, von St. Gallen nach München sind es jetzt nur noch zweieinhalb Stunden, wie nach Bern …

… eine Anbindung an die Welt …

Rechsteiner: … man muss das physisch verstehen, mit der Perspektive einer Weltstadt im Rücken. Auf dieser Strecke gibt es nun aber viele Verspätungen, was mit der Liberalisierung zu tun hat: Den Regionalverkehr im Allgäu haben sie europaweit ausschreiben müssen. Gewonnen hat eine Londoner Kapitalgesellschaft. Weil das keine Bahngesellschaft ist, haben sie Stadler-Fahrzeuge geleast. Deren Unterhalt wurde ebenfalls ausgeschrieben – und das günstigste Angebot kam aus Zug, von einer russisch dominierten Gesellschaft. Das sind die absurden Ergebnisse der Bahnliberalisierung. Aber zurück zur EU. Da muss man die Interessen definieren: Service-public-orientiert, der Lohnschutz muss garantiert sein. Dann findet man auch einen Weg. In den Achtzigern war die Dynamik der EU nicht absehbar, die Osterweiterung war so unwahrscheinlich wie die Liberalisierungen – so wie jetzt der Krieg gegen die Ukraine, der nochmals alles umwirft.

Funiciello: Es stellt sich aber schon auch die demokratische Frage. In den nuller Jahren gab es in Italien, wo ich aufgewachsen bin, eine wunderschöne Werbung: Als Italiener kommt man auf die Welt, und als Europäer wird man gross. Aber die Kritik an der EU aus einer italienischen Perspektive kommt ja vor allem auch davon, dass die EU so weit weg von den Leuten ist. Man muss sie lebbarer, demokratischer machen. Das ist für mich auch eine Bedingung dafür, dass wir uns weiterhin in diesem Projekt sehen.

Rechsteiner: In der Schweiz starten wir mit einem hohen Mitbestimmungsanspruch. Dank der direkten Demokratie haben wir eine sehr gute, öffentlich finanzierte Infrastruktur – und das in einem eigentlich sehr kapitalistischen Land. Gleichzeitig darf man aber nicht meinen, man könne als kleine Schweiz Europa takten. Was mir aus diesem Jahr, bei der ganzen Tragik des russischen Überfalls auf die Ukraine, als positive Geschichte bleibt: In der Migrationspolitik, die sonst mental von Abwehr geprägt ist, hat es mit dem Schutzstatus S plötzlich eine Veränderung gegeben. Das Solidaritätspotenzial in der Bevölkerung war immer viel grösser als das medial und politisch wahrgenommene. Das ist jetzt plötzlich offizielle Politik.

Funiciello: Wir sind sehr gut darin, die Rolle der Schweiz in der globalen Ungleichheit zu verschleiern. Wir haben dort eine riesige Verantwortung. Wenn man von all den Milliarden ausgeht, die man im Globalen Süden erbeutet und hier zu tieferen Sätzen versteuert …

Rechsteiner: Aber ausgerechnet im Klub der Reichen kommt die Schweiz mit der OECD-Reform zum zweiten Mal dran nach der Abschaffung des Bankgeheimnisses. Auch das schien damals unmöglich, das Bankgeheimnis war ja fast ein Supergrundrecht. Nach der Finanzkrise ist es innerhalb kurzer Zeit gekillt worden. Und jetzt wieder: Plötzlich bekommt die Schweiz gewisse Regeln. Wenn man nochmals 1847/48 anschaut: Auch da war die Schweiz ein Teil progressiver Entwicklungen. Wieso nicht auch heute? Das beste Buch, das ich zurzeit vielfach verschenke, ist Kim Stanley Robinsons «Ministerium für die Zukunft». Dieser Science-Fiction-Autor aus Kalifornien ist gleich alt wie ich und ein Linker. Sein Zukunftsministerium ist in Zürich angesiedelt, in einer Zukunft, in der die Klimakatastrophe drastische Folgen hat. In Züri! Science-Fiction ist immer ein bisschen ungefähr, aber trotzdem: Wir sind Teil der grossen Probleme, können aber auch Teil der Lösung sein. Wir als Teil der Welt. Schluss, jetzt habe ich viel zu viel geredet.

Funiciello: Ich liebe deinen Optimismus, wirklich!

Rechsteiner: Das Schöne ist ja auch, dass es bei der SP, aber auch bei den Grünen eine Perspektive gibt. Die neue Generation im Parlament – es ist wichtig, was ihr macht!

Funiciello: Dafür müssen wir aber auch ein bisschen wütend an die Geschichte rangehen. Wie sagte Gramsci? Optimismus des Willens, Pessimismus des Verstands. Die Zukunft wird nur internationalistisch gelingen. Wenn wir alle Kämpfe vereinen können, hier und weltweit. Es ist wie bei einer Deadline: Wir müssen einfach, also machen wir das.

Rechsteiner: Die Entscheide von heute prägen die Welt von morgen. Aber gut, fangen wir nicht wieder an.