Literatur: Der doppelte Juan

Nr. 3 –

In «Auch die Toten» will Juan Gómez Bárcena blinde Flecken der Kolonialgeschichte Spaniens ausleuchten. Dabei scheitert er kläglich.

Portraitfoto von Juan Gómez Bárcena
Juan Gómez Bárcena versteht es, erzählerischen Sog zu entfalten – doch sein Protagonist bleibt blass. Foto: Isabel Wagemann

Zu den weniger bekannten Merkmalen Spaniens gehört, dass das Land zur eigenen Kolonialvergangenheit ein eher unverkrampftes Verhältnis pflegt. Am deutlichsten zeigt sich das alljährlich am 12. Oktober, dem Jahrestag der «Entdeckung» Amerikas. Der wichtigste Nationalfeiertag Spaniens heisst seit 1987 zwar nicht mehr «Tag der Hispanität» – was in etwa dem «Deutschtum» entspricht –, wird aber nach wie vor mit den alten nationalistischen Insignien begangen: Militärparaden und überdimensionalen Fahnen. Dabei sollte sich herumgesprochen haben, dass die spanische Eroberung Amerikas ab 1492 mindestens fünfzig Millionen Menschen das Leben gekostet hat.

Der Roman «Auch die Toten» von Juan Gómez Bárcena kommt zunächst wie ein Versuch daher, diesen blinden Fleck auszuleuchten. Das Buch erzählt von der Geschichte Mexikos vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart, der 1984 in Santander geborene Autor spannt also den ganz grossen historischen Bogen. Juan Toñanes, ein aus armen Verhältnissen in Kastilien stammender Eroberer, wird beauftragt, einen rebellischen Indigenen gefangen zu nehmen. Was Letzterem, der wie sein Verfolger den Vornamen Juan trägt, vorgeworfen wird, bleibt im Unklaren. Und auch die Hauptfigur Juan Toñanes ist eher unscharf gezeichnet. Man erfährt nur, dass er «in seiner Zeit als Soldat weder der Beste noch der Schlechteste seiner Zunft gewesen ist, dass er in vielen Scharmützeln vielfach verwundet wurde, ohne sich als sonderlich feige oder sonderlich mutig erwiesen zu haben […]. Ein offenbar gewöhnlicher Mensch.»

Dieser eigenschaftslose Held macht sich nun auf die Suche nach dem anderen Juan. In einer Missionarsschule erfährt er, dass sich sein Namensvetter in den Norden zurückgezogen hat, in das Gebiet der berüchtigten Chichimeken, und trotz eindringlicher Warnungen folgt er der Spur. Allerdings findet er im Norden nur eine Glaubensgemeinschaft, die den Gesuchten als «Vater» verehrt. Toñanes ist irritiert, fasziniert – und angewidert: Die Gläubigen sind fanatisch, predigen die Gleichheit aller Menschen und verüben schreckliche Gräueltaten.

Plötzlich auf Zeitreise

Weil der gesuchte Juan bereits weitergezogen ist, bricht auch Toñanes bald wieder auf: «Er durchquert Fragmente von Boden, Fragmente von Zeit. Er durchläuft auch Fragmente vom Leben des Vaters. Er sieht ihn neben sich, wie er zusammen mit ihm wartet. Er macht Halt an demselben unbedeutenden Ort, an dem auch Juan Halt macht. Er wärmt sich am selben Lagerfeuer. Sie trinken abwechselnd aus derselben Trinkflasche, jeder Schluck ist ein grausamer Beitrag zum Durst des anderen.»

Als Toñanes zu begreifen beginnt, dass sein Leben mit dem des Verfolgten untrennbar verknüpft ist, springt die Erzählung unvermittelt in die Zukunft – erst in die Zeit der mexikanischen Revolution, dann in die Gegenwart. Dabei wechselt auch der Indigene Juan seine Gestalt: Er wird Grossgrundbesitzer, Revolutionsgeneral, schliesslich Mafiaboss. Juan, der Verfolgte, und Juan, sein Jäger, geistern wie Untote durch die Geschichte.

Zu diesem Zeitpunkt ist der Roman «Auch die Toten» allerdings zu einem Ärgernis geworden. Denn da Toñanes ein Held ohne Eigenschaften ist und keine Bindungen zu anderen Menschen aufbaut, gibt es auch keine zwischenmenschlichen Konflikte oder eine Persönlichkeitsentwicklung. Die Erzählung versandet – im eigentlichen Sinn des Wortes.

Der rätselhafte, transhistorische Dreh der Geschichte kaschiert dieses Problem noch eine Weile: Er suggeriert, das Buch erzähle vom «Zusammentreffen zweier Welten», wie die Eroberung Amerikas in Spanien oft euphemistisch genannt wird. Doch letztlich scheitert das Buch auch als historischer Roman. Seine einzige erkennbare These besteht darin, dass die Gewaltexzesse der Kolonialmacht und des indigenen Mexikos miteinander verschränkt sind. Dieses Motiv jedoch wird in der Erzählung nicht entwickelt, nur wiederholt.

Alles nur Feuerwerk

Dabei versteht es Juan Gómez Bárcena durchaus, einen erzählerischen Sog zu entfalten. Mit dem mysteriösen Indigenen Juan, über den immer wieder neue Geschichten kursieren, zieht er die Leser:innen geschickt in seinen Bann. Doch der Autor weiss mit dieser Spannung nichts Rechtes anzufangen, nach einem starken Einstieg tritt der Roman auf der Stelle.

Immer wieder tauchen Bilder auf, die in ihrer Plastizität beeindrucken, einem bei genauerer Betrachtung allerdings bekannt vorkommen: Die religiöse Gemeinschaft erinnert an die brasilianischen Aufständischen in Mario Vargas Llosas Roman «Der Krieg am Ende der Welt». Der Blick auf die mexikanische Gewaltgeschichte lässt an Carlos Fuentes’ meisterhaften Roman «Terra Nostra» denken. Und die Passagen über die Frauenmorde von Ciudad Juárez verweisen auf Roberto Bolaños «2666». Doch diese Motive sind nur Feuerwerk für die ichbezogene – und letztlich auch koloniale – Perspektive des blassen Protagonisten Juan Toñanes.

In gewisser Weise ist «Auch die Toten» charakteristisch für Spanien, das Gastland der letztjährigen Buchmesse in Frankfurt: Selbst dann, wenn die Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit gesucht wird, findet sie nicht wirklich statt.

Buchcover von «Auch die Toten»

Juan Gómez Bárcena: «Auch die Toten». Roman. Aus dem Spanischen von Matthias Ströbel. Secession Verlag. Berlin 2022. 494 Seiten. 52 Franken.