«Die Goldküste»: Hat Ururgrossvater wirklich Gold gefunden?
Reich wurden andere: Eine Familienreise nach Alaska führt die Autorin Isabel Fargo Cole tief in die politische Ökonomie der Zeit des Goldrauschs – und weit darüber hinaus.
Vor dem Ausbruch der Coronapandemie unternimmt die seit vielen Jahren in Berlin lebende US-Schriftstellerin Isabel Fargo Cole mit ihren Eltern eine mehrwöchige organisierte Gruppenreise nach Alaska. Was die auf Deutsch schreibende Autorin dabei beobachtet, notiert sie in einem Reisetagebuch, angereichert mit Reflexionen sowie historischen, ökologischen, ökonomischen und politischen Exkursionen.
Daraus ist der Essay «Die Goldküste» entstanden, im Untertitel: «Eine Irrfahrt». Es geht darin um Stippvisiten bei Flora und Fauna, um Bergsteiger, Entdecker und die Überlieferung indigener Gemeinschaften. Den roten Faden aber bilden Coles Recherchen über ihren Urahn Arva Fargo.
Eine Familienlegende besagt, dieser habe in Alaska als Goldsucher sein Glück gemacht. Cole findet historische Zeitungsberichte über ihn und ein Gedicht von ihm, das in der Lokalpresse abgedruckt wurde. Weit mehr als über sein individuelles Schicksal bringt sie jedoch über die politische Ökonomie jener Zeit in Erfahrung. In der Regel waren die Menschen, die sich unter widrigsten Umständen auf die Suche nach dem Edelmetall machten, keine Abenteurer, sondern verarmte Bauern oder Proletarier, die in einer Finanzkrise um ihr Hab und Gut gebracht worden waren. Und in der überwältigenden Mehrzahl kamen sie bei ihrer gefährlichen Arbeit in der Kälte nicht zu Wohlstand. Wer dagegen vom Goldrausch profitierte, das waren die Ausrüster der Expeditionen in die raue Wildnis, so Cole: «Die eigentlichen Geschäftschancen lagen nicht in der Tonne Gold, sondern in der Tonne Vorräte, die jeder Goldsucher mit sich führen musste.»
Der Mob von Seattle
Eine wichtige Basisstation für die Reise in die nördlichste und am dünnsten besiedelte Region der USA war die Küstenstadt Seattle. Hier, in einer eher milden klimatischen Zone, entwickelte man nun Polarkleidung und züchtete die für das Überleben in Alaska damals ebenso unverzichtbaren Schlittenhunde. «Jeder der 70 000 Argonauten, die von Seattle ins Yukon-Gebiet aufbrachen, gab schätzungsweise 1000 Dollar aus – insgesamt siebzig Millionen Dollar, die in die Stadtkassen flossen.» Auch das Spektrum der Güter sei für die Geschäftsleute ein Segen gewesen, schreibt Cole, weil diese sich so «auf die verschiedensten Produkte und Dienstleistungen ausweiten konnten».
Zu den am übelsten behandelten Gruppen in der US-amerikanischen Gründerzeit, dem sogenannten Gilded Age, gehörten chinesische Einwanderer, die ihr Geld beispielsweise als Köche in Goldgräberlagern verdienten. 1882 wurde Chines:innen die Zuwanderung in die USA per Bundesgesetz untersagt, drei Jahre später wurde die chinesische Bevölkerung in Seattle von einem Mob aus der Stadt verjagt. Erst nach Jahrzehnten habe sich die chinesische Gemeinde wieder erholt, schreibt Cole, und erst ab 1943 durften Chines:innen wieder ins Land einwandern: «Aber selbst eingebürgerte Chinesen durften erst 1965 in den USA Grundbesitz erwerben, und als Bruce Lee 1964 die weisse Linda Caldwell heiratete, war deren Ehe in vielen Bundesstaaten ungültig – erst drei Jahre später wurde das Verbot von ‹Mischehen› für verfassungswidrig erklärt.»
Mit den Widersprüchen der gegenwärtigen Einwanderungspolitik wird die Autorin konfrontiert, als ihr Vater im abgelegenen Örtchen Ketchikan, mitten in der unüberschaubaren Inselwelt der Nordwestküste, einen Artikel der «New York Times» über die mexikanische Grenze aus dem Internet zieht. Wer dort beim Versuch der illegalen Einreise in die USA erwischt wird, muss damit rechnen, interniert zu werden. Familien werden getrennt, die Kinder in sogenannten «tender age shelters» untergebracht.
Als eine Mutter ihr zehn Monate altes Kind wieder in die Arme schliessen konnte, stellte sie fest, dass es völlig verlaust war – man hatte es mehrere Monate lang nicht ein einziges Mal gebadet. «Das Aufsichtspersonal durfte die Kinder gar nicht erst berühren», so erfährt Cole. Die Unterkünfte waren unter dem damaligen Präsidenten Barack Obama für unbegleitete Jugendliche eingerichtet worden. Die Vorschrift sollte Missbrauch vorbeugen, doch das Personal hielt auch angesichts von traumatisierten Kleinkindern an den alten Regeln fest: «So wurde ein Kind, das sich nicht selbst baden konnte, eben nicht gebadet, ein weinendes Kind nicht in den Arm genommen.»
Daten schürfen statt Edelmetall
Immer wieder sieht sich die Autorin auf ihrer Reise auch mit den Auswirkungen der Klimaerhitzung konfrontiert. Als sie bei einer Schifffahrt einen majestätischen Gletscher passieren, erläutert der Kapitän: Seit er vor zwölf Jahren bei der Kreuzfahrtgesellschaft angefangen habe, sei dieser um mehr als eine Meile geschrumpft.
Eine weitere Erkenntnis, die sich bei der Lektüre des aufwendig gestalteten, mit historischen Fotografien und Kartenmaterial reich illustrierten Buchs aufdrängt: An der US-Nordwestküste ist die Zeit des Goldrauschs längst nicht vorbei. Heute sind es Techunternehmer:innen wie der Amazon-Gründer Jeff Bezos, die sich in Seattle zu bereichern wissen. «Das Internet», sagte Microsoft-Gründer Bill Gates 1997 zur Hundertjahrfeier des Goldrauschs am Klondike, «ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Leute, die Goldgräbern Pfannen verkaufen, oft besser abschneiden als die Goldgräber selbst.»
Isabel Fargo Cole: «Die Goldküste. Eine Irrfahrt». Verlag Matthes & Seitz. Berlin 2022. 367 Seiten. 47 Franken.