Auf allen Kanälen: Wenig aufgeweckt

Nr. 36 –

Ein mediokres Sachbuch zum Thema «woke» und «links» treibt die Feuilletons um. Dabei offenbaren sie eigene Defizite.

Ausschnitt von einem stilisierten Foto von Susan Neiman

Kleines Wort, laute Wirkung: Die Vokabel «woke» hat in den letzten Monaten weiter Karriere gemacht. Was der Duden als «in hohem Mass politisch wach und engagiert gegen […] Diskriminierung» definiert, wird von rechter Seite routiniert als Kampfbegriff gegen linke Anliegen missbraucht. Jüngstes Beispiel: der samstägliche Leitartikel der NZZ, in dem die Inlandchefin eine «Furcht vor Anwürfen der Gender-, Klima- und Wokeness-Lobby» herbeischreibt, die einer beherzten bürgerlichen Politik im Wege stehe. Immerhin erwähnt sie als weitere Problemzone auch die SVP.

Die böse «Theorie»

Vier Buchstaben als Reizstoff, Klärung wäre dringend erwünscht, gerade auch in einem innerlinken Diskurs, wo man sich ja durchaus auch über eine behauptete woke Fixierung auf Diversitätsfragen und – rassistische und sexistische – Diskriminierung echauffiert.

Susan Neimans neues Buch kommt da wie gerufen. Die US-Philosophin, die schon lange in Berlin lebt und dort das renommierte Einstein-Forum leitet, definiert sich selbst als links und führt ihr unmissverständliches Postulat direkt im Titel: «Links ist nicht woke». Ihren Text will sie als Plädoyer für eine universalistische Haltung und für die Aufklärung verstanden wissen – in expliziter Ablehnung dessen, was sie abschätzig «Tribalismus», «Stammesdenken» oder schlicht «Theorie» nennt.

Bloss: Wer argumentiert – gerade unter Theoretiker:innen – heute ernsthaft gegen die Aufklärung? Und was genau soll «Stammesdenken» sein? Dazwischen liefert Neiman einzelne bedenkenswerte Beobachtungen, etwa dass es heute immer öfter um eine Politik der Symbole anstatt um gesellschaftliche Veränderung gehe, was aber ausgeführt werden müsste.

Was auffällt: Die angesehene Philosophin arbeitet sich an einer Position ab, die im Buch fast nur in Gestalt anonymer Thesen präsent ist. Neiman konstruiert eine mächtige «woke» Phantomfront, ohne Autor:innen oder konkrete Texte zu nennen, an denen man ihre Kritik objektiv messen könnte. Stattdessen lesen wir zahlreiche sträflich vage und unbelegte Sätze wie: «Die meisten woken Aktivisten lehnen den Universalismus ab.»

Bereits kurz nach Erscheinen gabs dafür ein hart geführtes Interview in der «Zeit», dazu zwei krachende Verrisse in der FAZ und in der «FAZ am Sonntag», alle keine linken Kampfblätter. Letztere moniert «Kohärenzmangel», nennt Neimans Buch einen «Schattenboxkampf in drei Kapiteln». Die FAZ zeigt, wie die Autorin ausgerechnet den NS-Staatsrechtler Carl Schmitt und den antisemitischen Philosophen Martin Heidegger «ohne irgendwelche Belege» als «positive Bezugspunkte» für die woke Bewegung darstellt. «Mit bemerkenswerter Unbedarftheit» schlage Neiman auch den Historiker und Philosophen Michel Foucault zum Feld der «rechten Ideologen» und «Anti-Aufklärer», die das woke Denken «kolonisiert» hätten.

Schon sehr früh war also fast alles gesagt – insbesondere, dass das Buch gravierende argumentative Defizite aufweist. Man hätte sich interessanteren Texten zuwenden können. Trotzdem wird weiter wortreich über «Links ist nicht woke» geschrieben. Kaum ein neuerschienenes Sachbuch heimste in letzter Zeit derart viele Reaktionen ein. Dabei scheint das Erkenntnisinteresse nicht allzu gross zu sein: Entweder man teilt Neimans Verdammung von «woke» und rezensiert eher wohlwollend. Oder man interviewt sie, wie etwa die «NZZ am Sonntag», freudig-verständnisvoll, wenngleich leise beunruhigt darüber, dass sich Neiman als Sozialistin bezeichnet (was sie allerdings nicht daran hindert, Barack Obama als herausragenden linken Politiker zu loben und einen Bogen um den Begriff «Klasse» zu machen).

Lauter Phantomjagden

Andere nutzen Neimans fahriges Pamphlet auch einfach als Aufforderung, um aufzuschreiben, was sie sich selber zum Thema überlegt haben – oder feiern ihre Verteidigung der Aufklärung. Insgesamt herrscht der Eindruck vor, dass viele Rezensent:innen die Grundthese des Buchs nicht aufgeben mögen, obwohl sie merken, dass das Buch selber kaum zu retten ist. Als wollten die Medien die eigene monatelange Phantomjagd nach der «woken Gefahr» lieber nicht infrage stellen. Das wichtige Thema, wie sich «woke» in eine linke Politik einsortiert, bleibt bei alledem völlig ungeklärt.