Erdbeben in der Türkei und Syrien: Unter Trümmern begraben
Der türkische Städteplaner Tayfun Kahraman sitzt im Gefängnis. An sich in der Türkei nichts Besonderes: Viele Wissenschaftler:innen verbüssen wegen ihrer Kritik an der Regierung Haftstrafen. Kahraman jedoch wurde 2019 von der Oppositionspartei CHP als Leiter des Amtes für Erdbebenrisikomanagement und Stadtentwicklung in Istanbul eingesetzt. 2013 soll er die Gezi-Proteste unterstützt haben.
In einem Bericht warnte Kahraman, dass bei einem starken Beben in der 16-Millionen-Metropole bis zu 500 000 Gebäude beschädigt werden könnten. Nachdem er seine Studien auch der Regierung vorgelegt hatte, wurde er im April 2022 zu achtzehn Jahren Gefängnis verurteilt.
Bei den Beben vergangene Woche wurden in der Türkei und in Syrien mehr als 40 000 Menschen unter Trümmern begraben. Die Uno befürchtet, dass die Zahl der Toten gar auf mehr als 50 000 ansteigen wird. Zehntausende Tote, die das gebrochene Versprechen einer vermeintlich demokratischen Regierungsführung bezeugen. Er wolle mit den Versäumnissen der neunziger Jahre aufräumen, hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan dereinst verkündet, als seine AKP 2002 an die Macht gekommen war. Zuvor waren im Jahr 1999 nach einem verheerenden Erdbeben im Nordwesten der Türkei rund 18 000 Menschen gestorben. Auch damals starben Tausende, weil die Regierung zu langsam reagierte.
Bei seinem Antritt als Ministerpräsident 2003 hatte Erdoğan versprochen, die sogenannten drei Y zu bekämpfen – Armut (yoksulluk), Verbote (yasaklar) und Korruption (yolsuzluk). Heute befindet sich das Land in der schlimmsten Wirtschaftskrise seit 2001. Verboten ist sehr vieles, was dem Präsidenten nicht gefällt, und Tausende hätten dieses Erdbeben überlebt, wenn Ankara rascher reagiert hätte und die Baulobby nicht von Korruption durchtränkt wäre.
Unter Erdoğan ist ein beispielloser Bauboom entstanden. Das Rattern von Presslufthämmern beherrscht die Städte. Staatliche Infrastrukturprojekte wurden ohne öffentliche Ausschreibungen vergeben und bereicherten so einen kleinen Kreis Erdoğan-Vertrauter aus dem Bausektor – die keine ordnungsgemässe behördliche Aufsicht fürchten mussten.
Diese Praxis hat immer wieder zu Tragödien geführt. Wie etwa, als die Stadt Isparta im Westen der Türkei 2021 von einem heftigen Schneesturm heimgesucht wurde. Tagelang hatten die Einwohner:innen keinen Strom, was zu mehreren Todesfällen führte. Die städtischen Elektrizitätsunternehmen waren von der AKP privatisiert und an Unternehmen verkauft worden, die von Loyalist:innen Erdoğans geführt werden. Die Konzerne hatten laut Medienberichten im Vorfeld keine Massnahmen ergriffen, um die Infrastruktur gegen solch einen Katastrophenfall zu wappnen.
Noch ist Erdoğan für seine Verhältnisse ungewohnt ruhig – anders als nach dem Putschversuch 2016, den er innerhalb weniger Stunden zu seinen Gunsten instrumentalisieren konnte. Er ahnt, dass das Beben das Ende seiner zwanzigjährigen Herrschaft eingeläutet haben könnte – und dass er, wenn die Zeit gekommen ist, viele Fragen wird beantworten müssen.
Etwa jene, was mit der Erdbebensteuer geschehen ist, die seit dem Beben von 1999 erhoben wird. Laut der Opposition wurden die Gelder zweckentfremdet statt in die Gebäudesicherung investiert. Und warum kamen die türkischen Rettungsteams teils erst so verspätet in den Katastrophengebieten an? Wer hat die Baulobby kontrolliert, die sich unter Erdoğan zur grössten Industrie entwickelt und sich Hand in Hand mit der AKP an den hohen Renditen bereichert hat? Denn fest steht: Es waren viele Bauten aus der Erdoğan-Zeit, die nun in sich zusammenfielen. Und nicht zuletzt wird sich der türkische Machthaber der Frage stellen müssen: Warum wurden all die Wissenschaftler:innen, die immer und immer wieder vor den Beben warnten, nicht gehört – sondern gar verhaftet?