Gewerbler: Wer ist hier der Radikalideologe?
Hans-Ulrich Bigler verfolgte als Direktor des Gewerbeverbands einen scharfen Rechtskurs. Unter seinem Nachfolger Henrique Schneider wird es nicht besser werden – insbesondere in Klimafragen.
Es hätte einer stalinistischen Partei alle Ehre gemacht: Letzte Woche wurde Henrique Schneider vom hundertköpfigen Wahlgremium des Schweizerischen Gewerbeverbands (SGV) ohne Gegenstimme zum neuen Direktor gewählt. Der 45-jährige Volkswirtschaftler war der einzige Kandidat, den der Vorstand vorgeschlagen hatte, obwohl im Dachverband seit Jahren ein Streit zwischen moderaten und rechten Kräften tobt. Die Richtung, in die sich der SGV dabei entwickelt, zeigt exemplarisch die Laufbahn von Schneiders Vorgänger Hans-Ulrich Bigler: Letztes Jahr trat der frühere FDP-Nationalrat zur SVP über, aufgrund einer «kontinuierlichen persönlichen Entwicklung», wie Bigler gegenüber der NZZ seinen Parteiwechsel begründete.
Mit Schneiders Amtsantritt Anfang Juli dürfte der Gewerbeverband noch weiter nach rechts rücken. Medien geizten vor der Wahl nicht mit deutlichen Bewertungen des bisherigen Chefökonomen und Bigler-Stellvertreters: «kompromissloser Hardliner» («Blick»), «Rechtsaussen-Professor» («Tages-Anzeiger»), «scharfzüngig» (SRF). Die Einordnung verdankt sich auch der abfälligen Sprache von Schneider. Als er gegen den Verbandsbeschluss das Covid-Gesetz bekämpfte, sprach er im «Nebelspalter»-Talk von einer «Impfreligion», von «ideologischer Starrheit» und «totalitären Tendenzen». Auch die Wettbewerbskommission (Weko) bezichtigte er eines Erfolgs, wie er nur in einer Diktatur üblich sei. Bemerkenswerterweise sitzt Schneider selbst in der Weko.
Ein Glück für die Arktis
Hinter dem groben Gepoltere steckt eine glasklare Ideologie. Schneider ist zwar in keiner Partei, aber in den Netzwerken der Verharmloser:innen des Klimawandels aktiv, so etwa als Vorstand des AKW-Lobbyvereins Nuklearforum oder als Stiftungsrat von «Klimarappen», einer einst auf Betreiben der Erdölvereinigung Avenergy Suisse gegründeten Organisation mit dem Ziel, Abgaben auf Benzin zu verhindern. Seit letztem Herbst ist der Ökonom zudem Verwaltungsrat und Redaktor der «Umwelt Zeitung», an der Seite des ehemaligen «Weltwoche»-Vizechefredaktors und SVP-Nationalratsaspiranten Philipp Gut.
Die unregelmässig erscheinende Postille hat nach eigenen Angaben eine Auflage von über 500 000 Exemplaren. Sie richtet sich an ein breites Publikum, wirklich instruktiv sind Schneiders Auslassungen aber vor allem für Gleichgesinnte. Das zeigt ein Blick in die Appenzeller Ausgabe der Zeitung vom September. Neben dem Editorial schrieb Schneider gleich acht Artikel selbst, darunter die Besprechung eines SGV-Medienanlasses und die Lobpreisung des Atomendlagers bei Bülach. In seinen Texten in der Gratiszeitung bezeichnete er Atomenergie als sicher und sauber – und beschimpfte die «Klimakleber» als «gefährliche Radikalideologen».
Schneider, der im steuergünstigen Appenzell wohnt, ist auch Stiftungsrat im Liberalen Institut. Für die selbsternannte Denkfabrik im «Dienst der Freiheit» schrieb er 2020 ein Papier zur Klimaerwärmung. Darin fragte er rhetorisch: «Wenn der Klimawandel tatsächlich stattfindet – und selbst wenn er durch menschliche Aktivitäten noch verstärkt wird –, welche Beweise zeigen dann hinreichend, dass die heutige menschliche Gesellschaft dazu in der Lage wäre, ihn umzukehren und ein stabiles Klima aufrechtzuerhalten?»
Diesen schlichten Gedanken variierte Schneider mehrfach und kam schliesslich zur bahnbrechenden Frage, ob neu erschliessbare arktische Regionen und die Anpassung an die Klimaerwärmung nicht mehr Vor- als Nachteile für die menschliche Gesellschaft bringen könnten. Argumente wie die von Schneider sind auch bei anderen Libertären am äussersten rechten Rand zu finden. Sie stellen den wissenschaftlichen De-facto-Konsens infrage, seitdem sich die schlichte Leugnung des Klimawandels nicht mehr halten lässt. Letztlich dienen sie dazu, jegliche staatliche Regulation oder gesellschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten zu verhindern.
Widersprüche zwischen Mitgliedern
Beim Gewerbeverband leitete Schneider bisher das Dossier «Nachhaltigkeit». Die Interessen im Verband divergieren beim Thema stark, etwa zwischen den Autoimporteuren und der Elektrobranche oder dem als nachhaltig geltenden Holzbau. Das zeigte sich vor der Abstimmung über das CO₂-Gesetz. Damals gab es heftige Kritik an der SGV-Führung, die laut fortschrittlichen Verbandsmitgliedern schon vor einem offiziellen Beschluss Nägel mit Köpfen machen wollte und gegen das Gesetz agierte. In einer beschwichtigenden Mitteilung beschloss das Gewerbe schliesslich Stimmfreigabe, nachdem das Gesetz intern «kontrovers diskutiert» worden sei.
Noch schwieriger dürfte der Spagat werden, seit die Wirtschaftsverbände gemeinsam mit dem Bauernverband eine Wahlkampagne unter dem Titel «Perspektive Schweiz» gestartet haben. Ob Schneider als Direktor des Gewerbeverbands deshalb zurückhaltender und sachlicher argumentieren wird, muss sich erst noch weisen. Nach seiner öffentlichen Werbung gegen das Covid-Gesetz zeigte sich der SGV-Präsident, Mitte-Nationalrat Fabio Regazzi, verärgert. Nach der Schmähung der Wettbewerbskommission wurde offenbar sogar Bundesrat Guy Parmelin aktiv. Bedauert oder relativiert hat Schneider bislang nichts.