Schottische Unabhängigkeitsbewegung: Wie ein Blitzschlag

Nr. 8 –

Der Rücktritt von Regierungschefin Nicola Sturgeon wird die schottische Politik durchschütteln. Doch warum ist die Kampagne für die Unabhängigkeit schon vorher arg ins Stocken geraten? Eine Suche nach Antworten.


Es ist Montag, der 13. Februar, zwei Tage vor dem Rücktritt der Ersten Ministerin. Noch verläuft die schottische Politik in den üblichen Bahnen. Ein geräumiges Büro im östlichen Zentrum von Glasgow, man hört nur das Tippen auf Computertastaturen, im Fernsehen läuft gedämpft die BBC. Alison Thewliss beendet ihren Zoom-Call um Punkt 14 Uhr und nimmt auf einem Sessel in der Mitte des Büros Platz. «Es ist schön, endlich wieder mal zu Hause zu sein», sagt sie.

Thewliss, vierzig Jahre alt, sitzt in legerer Pose, die Ellbogen auf den Knien, und spricht mit dem Selbstbewusstsein einer Profipolitikerin. Jahrelang Gemeinderätin in Glasgow, ist sie seit 2015 Abgeordnete für Glasgow Central im Parlament von Westminster. Gerade sind Ferien, und Thewliss ist für eine Woche in ihren Wahlkreis zurückgekehrt. Auf lange Frist ist ihr Ziel, überhaupt nicht mehr runter nach London fahren zu müssen: Sie ist Abgeordnete der Schottischen Nationalpartei (SNP), die auf eine Abspaltung von England hinarbeitet.

Aber im Moment sind sie und ihre Parteikolleg:innen ziemlich frustriert. Zwar hat die SNP einen Wahltriumph nach dem anderen errungen und ist seit über zehn Jahren in Edinburgh an der Macht. Aber trotzdem hat sie es bislang nicht geschafft, ein zweites Referendum über die Zerschlagung des Vereinigten Königreichs aufzugleisen.

2014 hatten die Schott:innen im ersten Unabhängigkeitsreferendum mit 55 Prozent für den Verbleib im Vereinigten Königreich gestimmt. Alison Thewliss dachte nach der verlorenen Abstimmung: Es ist vorbei, die SNP ist am Ende. Aber das Gegenteil trat ein, die Partei hatte grossen Zulauf. «Es war schnell klar, dass die Frage der Unabhängigkeit für die Schott:innen noch nicht erledigt war. Und daran hat sich bis heute nichts geändert», sagt Thewliss.

Vom Brexit bis zur Coronakrise

Die politischen Umwälzungen des vergangenen Jahrzehnts haben der Unabhängigkeitsbewegung immer wieder neuen Schwung gegeben. Vor allem der Brexit: Während der endlosen Rangelei um den EU-Austritt, die die Jahre nach dem Votum von 2016 beherrschte, konnten sich im überwältigend proeuropäischen Schottland immer mehr Bürger:innen mit der Idee der Eigenständigkeit anfreunden. Die Umfragen deuteten auf eine wachsende Unterstützung für die Unabhängigkeit hin – und die SNP wurde so dominant, dass Kritiker:innen Schottland als «Einparteienstaat» abkanzelten. An der Spitze dieses Staates steht seit acht Jahren Nicola Sturgeon, eine der fähigsten und charismatischsten britischen Politiker:innen der vergangenen zwanzig Jahre.

Was für ein anderes Kaliber sie im Vergleich zu den Entscheidungsträger:innen in London war, zeigte sich zum Beispiel während der Covid-Krise. Während Premierminister Boris Johnson gewohnt fahrig auftrat und die Pandemie auf die leichte Schulter nahm, ging Sturgeon umsichtig vor, sie kommunizierte kompetent und sachlich. Ihre Umfragewerte schossen in die Höhe, und auch die Zustimmung zur Unabhängigkeit nahm während der Pandemie zu.

Dennoch lief Sturgeon mit ihrer Strategie für ein zweites Referendum irgendwann gegen eine Wand. Das Problem ist die begrenzte Entscheidungsgewalt Schottlands. Denn über Angelegenheiten, die die Konstitution des gesamten Königreichs betreffen, kann die britische Regierung in Westminster das letzte Wort sprechen. Und diese blockiert seit Jahren ein erneutes Plebiszit; das erste von 2014 habe die Frage für mindestens eine Generation geklärt, sagt sie.

Sturgeon blieben kaum Optionen, und so zog sie vor Gericht. Sie bat den Supreme Court in London zu klären, ob die Regierung in Edinburgh auf eigene Faust ein legales Referendum organisieren dürfe, also ohne die Zustimmung von London. Im November sagte das Gericht: Nein, darf sie nicht. Die schottische Regierung kann also tun, was sie will – ohne grünes Licht von Premierminister Rishi Sunak wird nichts aus der Unabhängigkeit.

So sitzt Alison Thewliss jetzt in ihrem Büro und sagt machtlose Sätze wie: «Es liegt an der britischen Regierung zu erklären, warum sie den Mechanismus eines Referendums nicht zulässt. Wir halten es für einen sinnvollen Weg.» Die Parteiführung hatte zuletzt die Idee, die nächsten Parlamentswahlen, die 2024 anstehen, zu einem «De-facto-Referendum» zu machen. «Es würde bedeuten, dass wir die Wahlkampagne sehr spezifisch auf dem Thema Unabhängigkeit aufbauen», erklärt Thewliss. Aber das klingt ziemlich unbeholfen, immerhin hat die SNP bislang ihre Absicht, einen eigenständigen schottischen Staat herbeizuführen, nicht eben versteckt – aber das hat nichts daran geändert, dass London keine zweite Abstimmung zulässt.

Die Totengräber der Bewegung

Zwei Tage nach dem Gespräch gibt Sturgeon völlig unerwartet ihren Rücktritt bekannt. Die Ankündigung traf nicht nur Thewliss, sondern das ganze Land wie ein Blitzschlag. Sturgeon nannte viele persönliche Gründe für ihren Abgang – aber die Tatsache, dass sie mit ihrer Strategie für die Unabhängigkeit auf der Stelle trat, dürfte auch eine Rolle gespielt haben. Thewliss schreibt am Freitag per E-Mail etwas phrasenhaft: «Die Bewegung für ein eigenständiges Schottland ist grösser als eine Person, die Kampagne wird weitergehen.»

Daran zweifeln jedoch viele Schott:innen. Laut Umfragen gehen mehr als die Hälfte von ihnen davon aus, dass Sturgeons Abgang der Unabhängigkeitskampagne schaden wird. David Jamieson ist einer von ihnen. «Die Frage der Unabhängigkeit ist auf absehbare Zeit vom Tisch», sagt er. Allerdings sei die breitere Kampagne für ein eigenständiges Schottland schon lange vorher gestorben – und Sturgeon und die SNP-Parteiführung seien die Totengräber gewesen.

Jamieson wohnt im Stadtteil Govanhill im Süden von Glasgow. Auf den etwas unordentlichen Strassen des Quartiers geht es weit entspannter und bunter zu als im Stadtzentrum, es gibt viele südasiatische Läden und Halalmetzgereien, neuere Hipsterbäckereien sowie ein «queeres, jiddisches Anarchistencafé». An Hauswänden und Fensterscheiben geschlossener Geschäfte kleben Plakate, die für marxistische Ausbildungskurse und Klimacamps werben oder zu Solidarität mit streikenden Arbeiter:innen aufrufen.

Jamieson, 35 Jahre alt und mit modischem Schnauz, passt gut ins Quartier. Vor über zehn Jahren war er einer der Mitgründer:inne­­n der Radical Independence Campaign (RIC), der linken Basiskampagne, die sich ausserhalb der Parteipolitik für ein unabhängiges Schottland einsetzte. Dass die damalige Bewegung zu einem enthusiastischen Massenphänomen wurde und viele vormals unpolitische Schott:innen begeistern konnte, verdankt sich zu einem guten Teil der Graswurzelarbeit der RIC. «Aber diese Bewegung ist in den vergangenen Jahren verschwunden», sagt Jamieson, der heute Chefredaktor des Onlinemagazins «Conter» ist.

«Die SNP hat seit 2016 praktisch jedes Jahr gesagt, dass bald ein Referendum kommen wird», sagt er. «Das hatte zur Folge, dass viele Aktivist:innen mittlerweile die Hoffnung aufgegeben haben, dass es der Partei damit ernst ist.» Aber das Problem gehe tiefer: Nach und nach sei die SNP unter Sturgeon zu einer Partei des Establishments geworden. Besonders nach dem Brexit: «Wie im Rest Grossbritanniens war es vor allem die Mittelklasse, die sich gegen den EU-Austritt auflehnte. Und die SNP sah darin eine Gelegenheit, die schottische Unabhängigkeit als einen Weg zu präsentieren, die soziale und ökonomische Stabilität zu bewahren. Sturgeon hatte Angst, das Establishment zu verschrecken.»

Konservativ und widersprüchlich

Die Blaupause der SNP für ein eigenständiges Schottland ist laut Jamieson «extrem konservativ und widersprüchlich». Zum Beispiel bei der Frage der Währung. Die SNP will vorerst das britische Pfund beibehalten und auf eine eigene Zentralbank verzichten. Das wäre erstens ein Hindernis auf dem Weg zurück in die EU: Kein anderes EU-Land hat die Währung eines Nicht-EU-Landes, es ist fraglich, ob Brüssel so etwas zulassen würde. Für Jamieson kommt hinzu, dass so eine eigenständige schottische Wirtschaftspolitik unmöglich ist: «Wenn man keine Kontrolle über die Geldpolitik hat, kann man die Wirtschaft nicht so steuern, wie man möchte.»

Die Währungsfrage sei symptomatisch: Die SNP habe sich zunehmend mit Institutionen wie der Bank of England, der EU und der Nato oder dem politischen Establishment in den USA angefreundet. «Und das ist ein grosses Problem, denn diese Institutionen wollen nicht, dass Schottland unabhängig wird», sagt Jamieson.

Unterdessen haben Sturgeon und die SNP-Führung die Basiskampagnen immer mehr auf die Ersatzbank verbannt. In den Jahren von 2016 bis 2018 erlebte Schottland unzählige Demonstrationen für die Unabhängigkeit, regelmässig zogen sie bis zu 50 000 Leute an; für Schottland, ein Land mit einer Bevölkerung von etwa 5,5 Millionen Menschen, war das eine bedeutsame soziale Bewegung. «Aber Nicola Sturgeon war auf keiner einzigen dieser Demos», sagt Jamieson. «Sie wollte nicht mit dieser Art von lebhaftem, exzentrischem, zuweilen zornigem Strassenprotest assoziiert werden.» Zwar zeigen manche Umfragen, dass heute rund 45 Prozent der Schott:innen die Unabhängigkeit wollen – aber seit Jahren gibt es keine koordinierte Kampagne mehr, um die Unterstützung dauerhaft über die 50-Prozent-Marke zu drücken.

Während ihrer Entwicklung zur Establishmentpartei hat sich die SNP immer weiter von der radikalen Vision eines unabhängigen Schottland entfernt, für die 2014 so viele Leute auf die Strasse gingen. «Die SNP müsste sich an die Masse der Bevölkerung richten und erklären, was dank der Unabhängigkeit möglich sein wird – eine demokratischere Gesellschaft, weniger Ungleichheit und so weiter», so Jamieson. «Stattdessen sagt sie: Wir werden unabhängig, aber alles wird mehr oder weniger so bleiben wie jetzt. Das ist eine entmutigende Vorstellung.»