USA: Im Süden was Neues

Nr. 41 –

Ein politischer Wandel wird in den USA ohne den Süden nicht möglich sein. Trotz repressiver Zustände in den republikanisch dominierten Bundesstaaten arbeiten Aktivist:innen darauf hin.

Illustrationsportrait welches Christina Jiménez zeigt
Christina Jiménez arbeitet in einem Callcenter in Hattiesburg, Mississippi. 2021 hat sie sich mit ihren Kolleg:innen in der Gewerkschaft CWA organisiert und zum ersten Mal in ihrem Leben gestreikt. Nach zwei weiteren Streiks verdient sie heute fast fünfzig Prozent mehr.

Ein «Fundament aus Liebe, Säulen der Gerechtigkeit, ein Dach aus Mut und Türen, die offen sind für alle» – es waren mächtige Metaphern, die der Abgeordnete Justin Pearson im Frühjahr benutzte, als er ins Parlament von Tennessee zurückkehrte. So stelle er sich das Repräsentantenhaus seines Bundesstaats vor, sagte der Schwarze Demokrat, die Säulen mit den Händen skizzierend, für den Jubel pausierend.

Die republikanische Mehrheit hatte ihn und einen weiteren Schwarzen Demokraten, Justin Jones, aus der Kammer ausgeschlossen. Beide hatten den Protest gegen zu laxe Waffengesetze ins Parlamentsgebäude getragen, nachdem ein Amokläufer drei Kinder und drei Mitarbeiter:innen einer Grundschule in Nashville ermordet hatte. Der Konflikt machte Pearson, Jones und Gloria Johnson, eine dritte protestierende Abgeordnete, als die «Tennessee Three» international bekannt.

Besonders Pearson wird seither als progressiver Hoffnungsträger gefeiert. Er sei charismatisch und habe eine enge Verbindung zu den Menschen in seiner Heimatstadt Memphis, sagt etwa Tikeila Rucker von der Basisinitiative Memphis for All. In seinen Reden knüpft Pearson, selbst Pastorenkind, an den Stil von Predigern des progressiven Schwarzen Christentums an. Bereits als Jugendlicher lehnte er sich gegen die Schulbehörde von Memphis auf, um bessere Unterrichtsmaterialien zu erreichen. Im Jahr 2020 organisierte er eine Koalition, um den Bau einer Ölpipeline zu stoppen. Als das Projekt nach Monaten des Widerstands tatsächlich aufgegeben wurde, war Pearson plötzlich das Gesicht eines wundersamen Erfolgs. Mit dieser Geschichte im Rücken kandidierte er schliesslich fürs Parlament.

Pearson gilt als Ausnahmetalent. Aber er ist keine Einzelerscheinung. Hinter dem Abgeordneten stehen soziale Bewegungen, die in den vergangenen Jahren gewachsen sind. Ohne sie, das betont er selbst, wäre Pearson gar nicht erst im Parlament gelandet. Neben der Radikalisierung der Republikaner:innen zeigt der Kampf der «Tennessee Three» noch eine andere Entwicklung: Im Süden der USA wächst der Widerstand gegen den konservativen und zunehmend autoritären Status quo.


«Wohin der Süden geht, dahin geht auch die Nation», so lautet ein bekanntes Zitat des 1963 verstorbenen Schwarzen Soziologen W. E. B. Du Bois. Im Schlechten wie im Guten habe der Süden den Rest des Landes geprägt: von der Sklav:innenhalterwirtschaft bis zum Widerstand der Schwarzen Befreiungsbewegung. Den Satz von Du Bois kann man auch auf die Gegenwart übertragen: Robuste Mehrheiten lassen sich ohne den Süden kaum organisieren. Ein politischer Wandel weg von der Dominanz der Rechtskonservativen wird ohne die Region nicht erreichbar sein.

Der Süden hat schon deswegen hohe Bedeutung für das Land, weil in keiner Grossregion mehr US-Amerikaner:innen leben. Laut Zensus sind es rund 130 Millionen, verteilt auf sechzehn Bundesstaaten und den District of Columbia um die Hauptstadt. Die Behörden zählen nicht nur die ehemaligen Staaten der Sezession zur «South Region», sondern etwa auch Delaware und West Virginia. Die Harvard-Professorin Imani Perry nennt den Süden das wahre «Heartland» – üblicherweise eine Bezeichnung für den Mittleren Westen. In ihrem Buch «South to America» erklärt Perry, dass die Sklaverei das «Verhältnis der Amerikaner:innen zu Arbeit und Boden» geprägt habe und man die Geschichte des amerikanischen Kapitalismus somit nicht vom Süden trennen könne. Wer die heutigen Machtverhältnisse verstehen wolle, müsse deshalb südlich von Washington D. C. ansetzen.

Ähnlich haben auch Autoren wie John Egerton und George Packer argumentiert, die von einer «southernization» der USA gesprochen haben. Nichts sei so amerikanisch wie der Süden und nichts dem Süden so ähnlich wie der sich oft überlegen fühlende Rest des Landes – vom strukturellen Rassismus bis zur Bekämpfung der Rechte von Arbeiter:innen. Der Süden werde in seiner Bedeutung oft verkannt, sagt auch James Thomas, Soziologe an der Universität von Mississippi in Oxford. Das liege unter anderem daran, dass viele Politiker:innen und Journalist:innen bei Kategorien wie «ländlich» oder «working class» immer noch zuerst an Weisse denken. Der Süden sei jedoch nicht nur die Region mit dem grössten Schwarzen Bevölkerungsanteil, sondern auch der ländlichste und ethnisch diverseste Teil des Landes, sagt Thomas. «Der Süden ist kein überwältigend konservatives Gebiet. Der Süden ist ein Ort, der heiss umkämpft ist.»

Die Region ist voller Widersprüche und Konflikte. Die Menschen hier sind durchschnittlich ärmer als im Rest des Landes, und struktureller Rassismus bestimmt viele Lebensbereiche. Gleichzeitig ist der Süden für Unternehmen besonders attraktiv – niedrige Steuern und Löhne ziehen auch Autobauer wie Volkswagen an. In vielen Vorgärten sieht man bis heute die Konföderiertenflagge. Das Symbol der ehemaligen Sklav:innenhalterstaaten hing in Mississippi und South Carolina bis vor wenigen Jahren sogar noch an Amtsgebäuden. Christliche Kirchen mit extremen Ideologien haben grossen Einfluss. Und fast flächendeckend regieren die Republikaner:innen mit einem zunehmend repressiven Programm. Die Partei verbietet Abtreibungen, schränkt das Wahlrecht ein, unterdrückt Gewerkschaften, erlässt transfeindliche Gesetze. Wer nur diese Schlagzeilen verfolgt, kann vom Süden die Vorstellung einer reaktionären Masse bekommen.

Zur Realität gehört aber nicht nur, dass viele Menschen unter der rechten Politik leiden und etliche sich dagegen wehren, sondern auch, dass viele Bürger:innen an den politischen Prozessen gar nicht erst beteiligt sind. Bei den Kongresswahlen 2022 gaben weniger als die Hälfte aller Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In Mississippi waren es nur 31,5 Prozent – nirgendwo sonst im Land ist die Beteiligung so gering. Davon profitiert vor allem die Republikanische Partei, die schon länger darauf setzt, ihre überwiegend weisse Basis zu agitieren, während ein grosser Teil der Bevölkerung resigniert. «Minority rule» nennt sich das: autoritäres Regieren trotz zahlenmässiger Unterlegenheit.

Aus genau dieser Konstellation ergibt sich aber auch das Potenzial für politische Veränderungen.


Illustrationsportrait welches Justin Pearson zeigt
Justin Pearson wurde aus dem Parlament von Tennessee ausgeschlossen, als er für strengere Waffengesetze eintrat. Inzwischen ist der Demokrat wieder zugelassen und gilt als Hoffnungsträger.

In Memphis im Bundesstaat Tennessee lässt sich beobachten, dass Menschen nicht nur resignieren, sondern sich auch politisch organisieren. Das wird durch Hoffnungsträger wie Justin Pearson deutlich. Vor allem aber liegt es an progressiven Gruppen, die die Basisarbeit leisten. Memphis for All zum Beispiel, die Initiative, die im Dezember 2016 gegründet wurde – einen Monat nach Donald Trumps Wahl zum Präsidenten. «Viele wollten sich damals politisch einbringen, aber wussten nicht, wo», sagt Bennett Foster, der die Gruppe leitet. Durch den Trump-Schock sei die Überzeugung gewachsen, dass sich auch die Demokratische Partei wandeln müsse. Bernie Sanders’ linker Wahlkampf habe ihnen zudem Mut gemacht, dass es anders gehe.

Foster, 38 Jahre alt, ein grosser Mann mit braunen Haaren und kleinen, silbernen Ohrringen, sitzt in einem Sitzungsraum im Seitengebäude einer Kirche. Sein Handy legt er kaum aus der Hand, tippt auf einem Laptop – mal geht es um Flyer, die gedruckt werden müssen, mal darum, einen Raum für eine Veranstaltung zu organisieren. Wie viele Städte des Südens hat Memphis einen Demokraten als Bürgermeister und ist eine vergleichsweise liberale Stadt. Die Stärke der Republikanischen Partei kommt oft von den Weissen, die in den Vorstädten und auf dem Land leben. Die liberale protestantische First Congressional Church stellt den Aktivist:innen Räume zur Verfügung, das Geld für die zehn Angestellten von Memphis for All kommt aus Spenden.

Die Kirche liegt im Viertel Cooper-Young, zwischen szenigen Cafés. An den Wänden hängen Bilder von Martin Luther King, der 1968 in Memphis ermordet wurde, nachdem er sich dort einem Streik der Müllmänner angeschlossen hatte. Foster, der hier aufgewachsen und einer der wenigen Weissen im Team ist, sagt, dass das wichtigste Ziel der Initiative eine höhere Wahlbeteiligung sei. Dafür ziehen die Mitglieder von Tür zu Tür, richten Veranstaltungen aus, helfen bei der Registrierung.

«Wir mussten in den letzten Jahren viel dazulernen», sagt Foster. Zum Beispiel, wie elementar die Zusammenarbeit mit anderen Gruppen sei. «Wir gehen zu Gewerkschaftstreffen, um die Leute dort für die Wahl zu mobilisieren. Die Gewerkschaften wiederum kommen zu uns, wenn sie Leute am Streikposten brauchen.» Ohne konkrete Themen liessen sich Wähler:innen schwer motivieren. Die Initiative versucht deshalb, über politische Ziele ins Gespräch zu kommen: eine staatliche Krankenkasse für alle, eine Reform des Strafjustizsystems, mehr Schutz für undokumentierte Einwander:innen und ein strengeres Waffengesetz. Es sind genau die Dinge, für die auch Pearson kämpft.

Die Aktivist:innen in Memphis sind stolz auf den Abgeordneten, mit dem sie eng zusammenarbeiten. Zugleich wissen sie, dass einzelne Lichtgestalten auf Dauer wenig ausrichten können. «Wir wollen Tennessee politisch umdrehen», sagt die Aktivistin Tikeila Rucker. Sollte dieses Ziel irgendwann erreicht werden, könnte das auch Auswirkungen auf die Politik in Washington haben. Für viele Reformen brauchen die Demokrat:innen im hundertköpfigen US-Senat eine Mehrheit von sechzig Stimmen. Diese kann die Partei eigentlich nur erreichen, wenn sie in Bundesstaaten wie Tennessee irgendwann auch Senatswahlen gewinnt. Wie entscheidend das sein kann, zeigte im Jahr 2020 der Erfolg zweier Demokraten in Georgia: Raphael Warnock und Jon Ossoff zogen in den Senat ein und sicherten ihrer Partei eine knappe Mehrheit in der Kammer.

Bislang ist der Wandel im Süden vielerorts nur eine Andeutung. Doch angesichts der schwierigen Bedingungen ist jeder Versuch aus Sicht liberaler und linker Kräfte schon erfreulich. Das gilt nicht nur für die Wahlpolitik, sondern auch für die Gewerkschaftsbewegung, die in den vergangenen Jahren einen neuen Aufschwung erlebt. Bei Starbucks haben Angestellte in zahlreichen Städten des Südens mittlerweile erreicht, dass es eine gewerkschaftliche Vertretung gibt. In der Kleinstadt Bessemer in Alabama kämpfen die Beschäftigten eines Amazon-Logistikzentrums seit 2021 für dieses Ziel. Mit der Union of Southern Service Workers gibt es zudem eine neue Gewerkschaft, die Arbeiter:innen aus verschiedenen Dienstleistungsjobs zusammenbringen will.

Diese Auseinandersetzungen haben besonderes Gewicht, weil fast überall im Süden «Right to work»-Gesetze gelten: Arbeiter:innen haben meist keinen Kündigungsschutz. Gewerkschaften wird verboten, verpflichtende Mitgliedsgebühren zu verlangen. Im Süden sind daher nur 4,5 Prozent aller Beschäftigten organisiert. Während jeder Vorstoss für eine stärkere gewerkschaftliche Vertretung den progressiven Kräften Mut macht, ist er für die einzelnen Arbeiter:innen immer auch ein Existenzrisiko.


Christina Jiménez nahm im März 2022 dieses Risiko auf sich. Sie streikte, zum ersten Mal in ihrem Leben. Wie ihre Arbeitgeberin, die Callcenterfirma Maximus, darauf reagieren würde, war unklar. Die Mitarbeiter:innen hatten Angst, dass die Firma ihnen kündigen oder den Standort schliessen könnte. Und doch wagten Jiménez und rund vierzig Kolleg:innen, von denen die meisten ebenfalls Schwarze Frauen sind, den Streik. Wenn sie heute darüber spricht, erinnert sich Jiménez vor allem an das Gefühl, etwas bewegen zu können: «Bei meinem allerersten Streik habe ich meine Tochter mitgenommen. Sie war zu der Zeit drei Jahre alt. Ihr zu zeigen, wie man für seine Rechte eintritt, war fantastisch.» Sie habe ihrer Firma zeigen können, «dass ich nicht nur eine Zahl bin, sondern eine Stimme habe, dass ich nicht nur ein Roboter bin, sondern ein menschliches Wesen».

Jiménez ist 29 Jahre alt und hat drei Kinder, die sie allein grosszieht. Sie wohnt in Hattiesburg, einer mittelgrossen Stadt im Süden des Bundesstaats Mississippi. An einem Nachmittag im Spätsommer sind es vierzig Grad, und die Strassen wirken fast gespenstisch leer. Jiménez sitzt im Büro der Gewerkschaft CWA, die Arbeiter:innen in der Telekommunikationsbranche vertritt. Sie wirkt erschöpft, aber lächelt viel. Nur kurz hat sie Tränen in den Augen, als sie erzählt, dass sie vor ihrem Umzug nach Mississippi in einem Obdachlosenheim in Georgia gewohnt habe. Ein Leben «ganz unten in der Hierarchie». Dieses Bild benutzt sie mehrfach im Lauf des Gesprächs.

Der Job im Callcenter sei hart. Jiménez nimmt von 8.30 Uhr bis 17 Uhr Anrufe entgegen, um Versicherte von Medicare, der staatlichen Krankenversicherung für Rentner:innen, zu beraten. Ihr Arbeitgeber Maximus ist eine private Firma, Auftraggeber ist aber die Bundesregierung, die sich mit Mississippi einen Staat ausgesucht hat, in dem die Arbeit billig ist. Manchmal werde sie beschimpft, sagt Jiménez. Einige Versicherte hätten schon mit Selbstmord gedroht. Wenn man sich gerade fangen müsse, sei schon der oder die Nächste in der Leitung. Mehr als eine Handvoll sogenannter «sick days» habe sie am Anfang nicht gehabt. Das ist eine feste Anzahl von Tagen, an denen Beschäftigte krank sein dürfen. Zudem sei ihre eigene Krankenversicherung so mangelhaft, erzählt Jiménez, dass sie neben dem monatlichen Beitrag von 900 Dollar, den sie für sich und ihre Kinder aufbringen muss, auch für die meisten Behandlungen extra zahle. Sie müsse sich oft entscheiden, ob sie sich «Licht, Wasser, Essen oder Benzin» leiste – oder eben den Arzt für ein krankes Kind.

Sie war nur ein paar Tage im Job, als ihr das Management ein Video zeigte, in dem vor Gewerkschaften gewarnt wurde. Klassisches «union busting», für das oft auch Kanzleien und Beratungsteams angeheuert werden, um Mitarbeiter:innen und Gewerkschaften einzuschüchtern. Weil jeder Standort einzeln abstimmen muss, ob eine Gewerkschaft dort zugelassen wird, bleibt dafür viel Raum. Allein Amazon gab im Jahr 2022 mehr als vierzehn Millionen Dollar für Antigewerkschaftsberater:innen aus.

Dreimal haben Jiménez und ihre Kolleginnen inzwischen gestreikt. Mit Erfolg: Ihr Lohn ist von elf auf sechzehn Dollar die Stunde gestiegen. Es gibt auch mehr bezahlte Krankentage. Für Jiménez änderte sich darüber hinaus ihre grundsätzliche Sicht auf politisches Handeln. «Ich war zu hundert Prozent einer dieser typischen Menschen, die sagen: Warum soll ich wählen, das ändert doch nichts?», sagt sie. «Aber je mehr ich in der Gewerkschaft mitmache, desto klarer ist mir, wie wichtig Politik ist.»

Es ist diese Erkenntnis der Handlungsmacht, vor der nicht nur Unternehmen Angst haben. Je mehr Menschen ihre Rechte am Arbeitsplatz einforderten und ihre Resignation gegenüber der Politik aufgäben, desto gefährlicher sei das für die gesamte «herrschende Machtstruktur im Süden», sagt der Soziologe James Thomas.

Politischer Wandel im Süden werde viel Zeit brauchen. «Ich glaube, es wird erst noch schlimmer werden, bevor es wieder besser wird», sagt Thomas. Ein zentrales Problem sei das sogenannte Gerrymandering, bei dem Parteien die Wahlbezirke für die Kongresswahlen so zuschneiden, wie es ihnen am meisten nützt. In Mississippi ist so die überwältigende Mehrheit der Schwarzen Bevölkerung in einem einzigen Kongressbezirk vertreten, der an die Demokrat:innen geht, während die anderen drei Bezirke eine weisse und konservative Mehrheit haben. Ein anderes Mittel, mit dem die Republikaner:innen ihre Macht verteidigen, sei Wahlbehinderung, sagt Thomas: komplizierte Vorschriften bei der Registrierung oder das Schliessen von Führerscheinstellen und Wahllokalen.

Hoffnung schöpft der Soziologe auch mit Blick auf die Vergangenheit: «Der Süden war schon immer der Ort unserer radikalsten sozialen Bewegungen und der radikalsten Formen des Widerstands, die bis in die Zeit der Versklavung zurückreichen», sagt er.


Illustrationsportrait welches Rukia Rogers zeigt
Rukia Rogers engagiert sich in Atlanta gegen die Cop City, weil unter der Militarisierung der Polizei vor allem Schwarze und Arme leiden, und gegen die damit verbundene Umwelt­zerstörung.

Wenn es in den USA derzeit einen Ort gibt, an dem verschiedene progressive Bewegungen zusammenkommen, dann ist es Atlanta. In der Hauptstadt von Georgia kämpfen seit dem Frühjahr 2021 Tausende Menschen gegen die Errichtung eines Polizeitrainingsgeländes, das in einem Wald südlich der Stadt geplant ist (siehe WOZ Nr. 10/23). Mit rund 350 000 Quadratmetern Fläche wäre es das grösste im ganzen Land. Mindestens neunzig Millionen Dollar soll es kosten, ein grosser Teil davon durch Steuergelder finanziert. Eigentlich sollte «Cop City», wie die Gegner:innen das Projekt nennen, schon fertig sein. Der Widerstand hat es allerdings verzögert.

Wie breit die Bewegung gegen Cop City ist, wird an einem Samstag in einer Vorschule im östlichen Teil von Atlanta sichtbar. Die Direktorin der Highlander School, Rukia Rogers, hat die Aktivist:innen zu sich geholt, weil sie von der Sache überzeugt ist. Wo normalerweise Kinder spielen, treffen sich nun rund dreissig Leute: Studenten, Eltern, Rentnerinnen. Sie unterhalten sich, essen Wassermelone und Kekse und versammeln sich dann im Kreis, wo eine junge Frau erklärt, wie man erfolgreich Unterschriften sammelt. In kleinen Teams werden sie später durch die Nachbarschaft ziehen. «Ich glaube weiterhin, dass Cop City nie gebaut werden wird», sagt die 49-jährige Rogers. Sie trägt ein blaues, weites Kleid und sorgt an diesem Tag mit Scherzen dafür, dass die Stimmung optimistisch bleibt.

Dass die Proteste so intensiv sind, habe verschiedene Gründe, sagt Rogers. Ein wesentlicher Punkt sei «die fortschreitende Militarisierung der Polizei», unter der vor allem Schwarze und Arme leiden. Neunzig Prozent der in Atlanta Festgenommenen sind Schwarze, obwohl sie etwas weniger als die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Auch in den Gefängnissen der Stadt sitzen überproportional viele Schwarze – oftmals nur deshalb, weil sie sich die Kaution nicht leisten können. Zum anderen gehe es um die Umweltzerstörung, die mit Cop City verbunden sei, so Rogers. Teile des Weelaunee Forest, wo früher die indigene Gemeinschaft der Muskogee lebte, wurden bereits gerodet. Der Wald gilt als eine der «vier Lungen der Stadt», er kühlt und schützt vor Fluten.

Kritiker:innen sehen das Projekt als typisch für den sogenannten Atlanta Way, womit eine Kooperation der Schwarzen und weissen Oberschicht zulasten der Arbeiter:innenklasse gemeint ist. Initiiert wurde das Vorhaben durch die Polizeistiftung APF, die von Spenden grosser Konzerne lebt. Der Demokratische Stadtrat wolle auch zeigen, dass Unternehmen in der Stadt willkommen seien.

Bemerkenswert ist nicht nur die Hartnäckigkeit der Bewegung gegen Cop City, sondern auch die Bandbreite ihrer Aktionen. Zeitweise hatten die Aktivist:innen ein Protestcamp im Wald eingerichtet. Immer wieder sabotierten sie die Bauarbeiten. Die Polizei reagierte darauf zunehmend gewaltsam. Gegen 61 Aktivist:innen laufen mittlerweile Verfahren wegen des Vorwurfs der Bildung einer «kriminellen Vereinigung». Im Januar dieses Jahres erschossen die Beamt:innen bei einer Razzia eine:n der Besetzer:innen im Wald. 57 Schüsse trafen «Tortuguita», mit bürgerlichem Namen Manuel Terán, eine 26-jährige nicht-binäre Person.

Cop City wirkt wie eine Verdichtung verschiedener struktureller Probleme. An der Bewegung sind deshalb neben radikal linken Gruppen längst auch zahlreiche Gewerkschaften, Klimainitiativen und andere zivilgesellschaftliche Kräfte beteiligt. Auch einzelne Kongressabgeordnete wie Cori Bush haben ihre Solidarität ausgedrückt. Mehr als 100 000 Unterschriften wurden in den vergangenen Monaten gesammelt, um ein Referendum zu erwirken. Die Bewegung ist für die gesamte amerikanische Linke von zentraler Bedeutung. Für die nächste Aktionswoche, die Mitte November stattfinden soll, haben sich viele Aktivist:innen aus anderen Städten angekündigt.

Es gilt: Was hier im Süden passiert – oder eben nicht –, kann Auswirkungen auf das ganze Land haben.