Rentenalter 66: Die grosse Silberschmidt-Show
Die Renteninitiative der Jungfreisinnigen ist eng mit dem Zürcher FDP-Nationalrat Andri Silberschmidt verknüpft. Ist sie für ihn nur ein Vehikel, um vorwärtszukommen?
Zumindest eines scheint gewiss: Andri Silberschmidt (29) ist der Shootingstar der FDP. Und das schon seit vielen Jahren. Er wurde als Shootingstar 2016 Präsident der Jungfreisinnigen. Und mimt heute laut «Weltwoche» als FDP-Shootingstar den Asylhardliner. Er ist schon so lange Shootingstar, dass sich unweigerlich die Frage stellt, wann er denn endlich ankommt im Sternenhimmel bürgerlicher Politik.
Vorerst ist Silberschmidt jedoch damit beschäftigt zu verhindern, dass sein Stern bereits wieder verglüht. Kommende Woche steht im Ständerat ein Geschäft auf der Traktandenliste, das untrennbar mit dem Zürcher Politiker verknüpft ist. Silberschmidt und seine Partei wollen das generelle Rentenalter auf 66 Jahre erhöhen und einen Automatismus einbauen, damit dieses dann parallel zur steigenden Lebenserwartung weiter ansteigt. Eine «Entpolitisierung der Altersvorsorge» solle das bewirken, sagt Silberschmidt – damit man nicht alle paar Jahre die nächste Reform verhandeln müsse.
Doch natürlich ist alles an der Gestaltung des Rentenalters politisch. Und die Volksinitiative ein Angriff auf das Rentensystem der Schweiz. Der Bundesrat lehnt sie folglich ab, und auch im Parlament ist die Lust darauf gering. Denn seit Jahren bestätigt jede Umfrage die vorangegangene: Die Menschen in der Schweiz wollen nicht länger arbeiten müssen. Egal, in welcher Variante: generell bis 66, gar bis 67 oder in einem flexiblen System – mindestens zwei Drittel der Leute wollen das auf keinen Fall.
Flexible Argumente
Doch Andri Silberschmidt hat viel politisches Kapital in das Projekt investiert. Die Initiative, lanciert, als Silberschmidt noch Präsident der Jungfreisinnigen war, hat ihn in Windeseile hochgezogen. 2019 trug sie den Jungpolitiker von 25 Jahren anstelle des damaligen Gewerbedirektors Hans-Ulrich Bigler in den Nationalrat. Jetzt könnte sie ihm den Glanz nehmen. Deshalb verteidigt er sie mit Verve. Die Demografie werde zu grossen gesellschaftlichen Veränderungen führen, mahnt er: «Es wird zu massiven Steuererhöhungen kommen, wenn wir keine Lösung finden.» Länger zu arbeiten, ist in seinen Augen die einzige Lösung, die «nachhaltig» funktioniert.
Tatsächlich aber arbeitet Silberschmidt hinter den Kulissen eifrig an einem Kompromiss, der zu einem Gegenvorschlag des Parlaments führen würde, mit dem sich die Initiative gesichtswahrend zurückziehen liesse. Generelle Ausnahmen für Tieflöhne? Silberschmidt ist dafür. Ein flexibles Modell mit Lebensarbeitszeit, in dem Handwerker:innen früher aufhören könnten als Akademiker:innen, die später in den Beruf einsteigen? Silberschmidt hofft, die Gewerkschaften dafür zu gewinnen. Hauptsache, er kommt mit der Kernforderung durch; der Rest ist verhandelbar.
Auch seine Argumente sind flexibel. Einst als Mittel zur Wahrung der Generationengerechtigkeit präsentiert, soll die Erhöhung des Rentenalters heute, da die SVP die Migrationsdebatte neu angefacht hat, ein Instrument sein, um die Zuwanderung zu senken. Die Annahme dahinter: Würden die Leute länger im Job bleiben, müssten weniger sogenannte Fachkräfte aus dem Ausland angeworben werden. Dass schon jetzt, bei Pensionsalter 65, vierzig Prozent der Erwerbstätigen – vor allem solche in gut bezahlten Jobs – frühzeitig in Pension gehen, wird dabei geflissentlich ignoriert. Silberschmidt sagt: «Anfangs war mir nicht klar, was alles für die Initiative spricht, aber man kann ja schlauer werden.»
Andri Silberschmidt ist jedenfalls derzeit gefordert. Auch damit, den Anschein zu zerstreuen, die Alterspolitik diene ihm nur als Vehikel, um vorwärtszukommen. Im Parlament gibt es nicht wenige, die ihn in erster Linie als Karrieristen sehen, ohne genuine politische Überzeugungen. Eine andere Lesart ist, dass Silberschmidt ein klassischer sozial- und finanzpolitischer Hardliner ist, der sich hinter einer freundlichen, jugendlichen Fassade verbirgt. Beide Deutungen wurzeln im gleichen Eindruck: dass bei Andri Silberschmidts Politik vor allem die Kommunikation zählt.
Umfassende Selbstinszenierung
Kaum ein:e andere:r Parlamentarier:in setzt so viele Ressourcen ein, um sich zu inszenieren. Silberschmidt hat einen Assistenten mit einem Vierzigprozentpensum angestellt, der sich hauptsächlich um die vielen Kanäle in den sozialen Medien kümmert. Dort gibt es unzählige Videos zu jeder Facette seines Lebens. Es gibt eine Aufnahme in der SRF-Promi-Sendung «Glanz & Gloria», in der er vor dunklem Hintergrund beichtet, er habe zwei, drei Joints zu viel geraucht und deshalb das Gymnasium geschmissen: «Mitte-Rechts war nur mein Gangster-Cap.» Es gibt gestelzte Aufnahmen von ihm und seiner Partnerin aus den Ferien auf Instagram. Es gibt einen Auftritt in der TV-Show «Ninja Warriors». Und natürlich die Einblicke in seine Berner Politik-WG, die er mit dem SVP-Politiker Mike Egger und der Grünen Franziska Ryser während der Session bewohnt. Journalist:innen glauben regelmässig, dort in den menschlichen Alltag hinter der grossen Politik blicken zu können. Die famose Andri-Silberschmidt-Show – aber was ist echt daran?
Die Frage nach der Authentizität, räumt Silberschmidt ein, treibe auch ihn um. Er sagt: «Durch meine professionelle Art der Kommunikation in den sozialen Medien kommt nicht so viel rüber von mir als Mensch. Brille, Hemd, geschleckte Haare, dann noch die freisinnigen Sätze. Da hat man das perfekte Feindbild.» Er macht jetzt einen neuen Podcast mit der jungen Comedian Reena Krishnaraja, «in dem ich über alles rede, nur nicht über Politik». Der Podcast ist durchaus aufschlussreich; Silberschmidt sagt dort etwa, er wäge im Gespräch jedes Wort ab, überlege sich genau, wie das Gegenüber reagiere. Das klingt nach überragender Selbstbeherrschung – aber auch so, als habe er Angst, sich zu offenbaren.
In einem anderen, politischen Podcast, «Bundeshaus direkt», spricht Silberschmidt über die Berset-Affäre oder die Kita-Subventionen, die er trotz Sorge um die AHV rundweg ablehnt. Einmal geht es auch um die Altersvorsorge und darum, dass die Rente ja schon heute für viele nicht reicht. Dass es Frauen gebe, so die Journalistin, die ihn befragt, die nur wenig arbeiten und einzahlen könnten, weil sie nach ihren Kindern schauen müssten. Das Problem, holt Silberschmidt aus, beginne mit der Partnerwahl. Man habe die Folgen oftmals nicht besprochen, bevor man Kinder bekomme. «Das hat viel mit Bildung zu tun, dass man die Leute ausbildet, dass sie eigenverantwortlich denken und handeln.» Oftmals seien es Leute, die nicht die gleichen Bildungschancen gehabt hätten wie andere, «die dann in Situationen reinkommen, in denen sie von der Allgemeinheit unterstützt werden müssen». Schöner wäre es, wenn diese Personen «zwei, drei Jahre vorher befähigt würden, eigenständig zu denken und zu entscheiden, um erst gar nicht in so eine Situation zu kommen».* Es sind Sätze von irritierender sozialer Kälte und beachtlichem Klassendünkel. Und ein seltener Blick hinter das Kommunikationsgebilde von Andri Silberschmidt.
* Korrigenda vom 9. März 2023: In der neuen Onlineversion haben wir leicht verkürzt wiedergegebene Zitate aus dem Podcast «Bundeshaus direkt» ergänzt.