Widerstand in Georgien: «Kein 100-Meter-Lauf, sondern ein Marathon»
Seit Tagen gehen in Georgien Tausende auf die Strasse, um Neuwahlen zu erzwingen. Der Politologe George Melaschwili über das Potenzial der Proteste und die Rolle der Opposition.
WOZ: Herr Melaschwili, letzte Woche hat die georgische Regierung beschlossen, den EU-Beitrittsprozess des Landes bis 2028 auszusetzen. Diese Entscheidung löste landesweit Massenproteste aus, die von Polizeigewalt und Verhaftungen begleitet wurden. Wie schätzen Sie das Potenzial der Demonstrationen ein?
George Melaschwili: Proteste gegen ein autoritäres Regime sind natürlich sehr schwer zu gewinnen – das passiert nicht in einem, zwei oder fünf Tagen. Das ist kein Hundertmeterlauf, sondern ein Marathon. Die Hauptstärke der gegenwärtigen Proteste ist zunächst einmal, dass sie nicht zentral organisiert sind. Die regierende Partei Georgischer Traum versucht sehr aktiv, die Menschen, die hinter diesen Protesten stehen, zu identifizieren. Dass die Proteste von irgendjemandem kontrolliert werden müssten, dass irgendwo weit entfernt jemand wie ein Marionettenspieler dasitze und versuche, die Proteste zu manipulieren, ist ein wichtiger Teil ihrer Propaganda. In Wirklichkeit ist das alles überhaupt nicht so.
Sondern?
Es ist ein absoluter Volksprotest – und damit für ein autoritäres Regime wie jenes des Georgischen Traums am schwierigsten zu kontrollieren. All die Tricks, mit denen es den Informationsraum zu füllen versucht, sind eher wirkungslos. Der Protest ist auch darum sehr schwer zu ersticken, weil er aus der Identität der Georgier:innen heraus kommt – einer tiefen europäischen Identität, die der Georgische Traum zu brechen versucht.
Welche Rolle spielt die Opposition für den Erfolg der Proteste?
Heute koordinieren sich die Oppositionsparteien viel besser miteinander als früher. Für einen wirklichen Wandel reicht das aber noch nicht aus: Es braucht vielmehr eine echte Alternative zur regierenden Partei. Auch wenn die Menschen aus eigenem Antrieb auf die Strasse gehen, ist nun eine klare politische Agenda nötig – und die muss aus den Reihen der oppositionellen Kräfte einschliesslich der Präsidentin Salome Surabischwili kommen, schliesslich waren sie es, denen die Menschen bei der Wahl Ende Oktober ihre Stimme gegeben haben. Die Opposition sollte sich nun trotz etwaiger Unstimmigkeiten zusammenraufen und sowohl in Georgien selbst als auch gegen aussen klarmachen, dass die Proteste nur ein einziges Ziel haben: die Durchführung fairer Wahlen, um die verfassungsrechtliche Krise zu lösen, in der sich das Land derzeit befindet.
Die Sicherheitskräfte gehen brutal gegen die Demonstrationen vor, Journalist:innen werden geschlagen, ihre technische Ausrüstung wird zerstört. Glauben Sie, dass diese Gewalt den Protest zum Erliegen bringen kann?
Es ist sicher ein Versuch, den Protest zu stoppen. Aber wir sehen, dass dieser Versuch nicht sehr erfolgreich ist, obwohl schon rund 250 Personen festgenommen und Hunderte verletzt wurden. Ein junger Mann wurde an einer Demo von einer Tränengaskapsel getroffen und erlitt Hirnblutungen, er musste ins künstliche Koma versetzt werden. Dies hat jedoch keinen Einfluss auf die Stimmung der Bevölkerung, und wir sehen, dass der Protest immer taktischer, breiter und besser organisiert wird.
Nehmen wir zum Beispiel die Proteste an den Schulen: Die Lehrer:innen und Schüler:innen der Oberstufen haben einen Streik ausgerufen und beteiligen sich an den Strassenprotesten. Es wurden Unterstützungsfonds ins Leben gerufen, aus denen die Bussen bezahlt wurden, die das Regime gegen Demonstrant:innen verhängt. Sie statten Protestierende mit Helmen und Masken aus oder kommen für die medizinische Versorgung auf.
Der Kreml sieht in den Protesten Parallelen zur ukrainischen Euromaidan-Revolution im Jahr 2014. Halten Sie es für möglich, dass Russland direkt in Georgien interveniert, um «die Stabilität des Landes zu sichern»?
Erstens ist Georgien im Gegensatz zu anderen postsowjetischen Staaten nicht Mitglied des von Russland dominierten Militärbündnisses «Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit» (OVKS). Daher gibt es aus völkerrechtlicher Sicht keine legalen Möglichkeiten für die Russische Föderation, in Georgien irgendetwas zu unternehmen. Zudem ist Russland zu sehr mit der Ukraine beschäftigt und hat entsprechend keine Ressourcen, um rund 3,7 Millionen Georgier:innen zu kontrollieren. Jede direkte Intervention von Russland auf georgischem Territorium würde nur noch grössere Proteste auslösen. Daher halte ich ein solches Szenario für sehr unwahrscheinlich.
Wie sollte die EU aus Ihrer Sicht reagieren?
Die anderen EU-Staaten und die USA könnten dem Beispiel der baltischen Länder folgen und Strafmassnahmen gegen Personen verhängen, die für die antidemokratische Entwicklung in Georgien verantwortlich sind, etwa Einreiseverbote und finanzielle Sanktionen.
George Melaschwili (30) ist Politikwissenschaftler und Experte für internationale Beziehungen. 2015 gründete er in Tbilissi den liberalen Thinktank Europa-Georgien-Institut, den er bis heute leitet.