«Reine Farbe»: Erfüllt von Wärme und Licht

Nr. 12 –

Aus vogelgleicher Perspektive – der neue Roman von Sheila Heti ist ein mystisch pulsierender Text, der Schwindel verursachen kann.

Wenn man bereits im allerersten Satz Gott über die Schulter blickt, der «wie ein Maler von der Staffelei» zurücktritt, um seine Schöpfung zu betrachten, droht einem ob der luftigen Höhe vielleicht kurz schwindlig zu werden – hatte man doch die Trennung zwischen Kirche und Literatur für vollendeter gehalten als den politischen Laizismus.

Die Sorge ist allerdings unbegründet. Gott ist in «Reine Farbe» auch nicht mehr als ein:e weitere:r gescheiterte:r Künstler:in. Wir alle lebten, fährt die allwissend-melancholische Erzählerin fort, im vermeintlich ewigen Moment von Gottes selbstkritischem Innehalten. Lohnt es sich noch, das Werk abzuschliessen, oder wird es bald – und alle Zeichen deuten darauf hin – für unzureichend befunden und mit einer resignierten Geste weggewischt werden? Bevor dies geschehe, heisst es weiter auf diesen allerersten Seiten, die für diesen exzentrisch-wundersamen Roman wahrscheinlich eine Art Portalfunktion übernehmen und nur jene Leser:innen hineinlassen, denen hier noch immer nicht schwindlig geworden ist, manifestiere sich Gott «in Gestalt dreier Kunstkritiker am Himmel – ein grosser Vogel, der von oben her urteilt, ein grosser Fisch, der aus der Mitte heraus urteilt, und ein grosser Bär, der urteilt, während er die Schöpfung in den Armen wiegt». Diese Kritiker:innen repräsentieren nichts weniger als die dem Untergang geweihte Menschheit, die hier danach sortiert wird, was den Einzelnen am wichtigsten ist: den Vögeln die sinnhafte Schönheit, den Fischen die faire Gemeinschaft und den Bären ein einzelnes Gegenüber. Aus wessen Perspektive «Reine Farbe» erzählt ist, hat man da vielleicht schon erraten.

Mit Münzwürfen zur Antwort

Die Beziehung zwischen Erfindung und Biografischem ist in der Autofiktion, der man das Werk der Kanadierin Sheila Heti in der Regel zuordnet, eine überaus offene. Im Fall der von immigrierten jüdischen Holocaustüberlebenden abstammenden Heti hat sie sich im Verlauf ihrer drei Romane immer mehr vom Autobiografischen zum Symbolisch-Abstrakten hin verschoben – in dem Sinne, dass sich ausser dem persönlichen Empfinden der Erzählerin (und gewissen wenigen Anspielungen auf New Yorks Intelligenzija) kaum mehr ein Bezug zur gelebten Realität festmachen lässt. Das bedeutet keinesfalls, dass man sich als Leser:in in «Reine Farbe» nicht wiederfinden kann – im Gegenteil. Allerdings geschieht dieses Sichwiederfinden selten an einem zu erwartenden Ort, sondern etwa in einem Blatt oder in der Aura des perfekten Designobjekts.

Bereits Hetis beide früheren Romane sprachen in ihren unbescheidenen Titeln von den gesellschaftlichen, philosophischen, spirituellen und sexuellen Ausdehnungen der eigenen Biografie, die nie als etwas Passiertes beschrieben wird, sondern als offene Frage an die Zukunft: «How Should a Person Be?» («Wie sollten wir sein?») und «Motherhood» («Mutterschaft»). In Letzterem, 2018 publizierten Werk versuchte die Erzählerin Sheila, in einem (überraschend dialektischen) Zwiegespräch mit dem Zufall in Form von Münzwürfen nicht nur eine Antwort auf die Frage zu finden, ob sie mit ihrem Partner ein Kind zeugen sollte. Sie thematisierte und hinterfragte im Rahmen dieser Überlegungen auch noch gleich sämtliche eigenen sowie gesellschaftlichen Erwartungen an sich als Tochter, potenzielle Mutter und schöpferische Künstlerin. «Motherhood» war so originell wie ehrlich, so erhellend wie profan, so universell wie sexuell explizit, ohne aber je exhibitionistisch oder gar pornografisch zu werden. Die NZZ bezeichnete Heti als «Ikone», der britische Guardian erkannte in «Mutterschaft» das «neue literarische Standardwerk zum Thema», die Chefredaktorin der «Annabelle» besuchte die Autorin kürzlich für ein Interview bei ihr zu Hause in Connecticut.

Ob «Reine Farbe» mit seiner ungleich grösseren Abstraktion und seiner psychedelischen Annäherung an die Trauer (um den Vater, den Schöpfer und die Schöpfung zugleich) einen ähnlich breiten Enthusiasmus auslösen wird, wird sich zeigen. Heti reichert ihren autofiktionalen Zugang um noch mehr existenzielle und mystische Ebenen an, während sie sich gleichzeitig etwas von ihrer Protagonistin entfernt. Letztere darf sich frei zwischen dem gesamten Universum und einem einzelnen Blatt hin- und herbewegen – nicht selten auch innerhalb eines virtuos-poetischen Satzes, der alles zu betreffen scheint und gleichzeitig spezifischer nicht sein könnte: «Während die Sonne wie ein goldener Ball auf die Erde hinunterschien, musste sie eine Transformation durchlaufen haben, oder die Wellen hatten sie ans Ufer zurückgetrieben, unter einen Ast, wo irgendein Teil von ihr hinauf, -auf, -auf in ein Blatt gestiegen war.»

Sie, deren verkomplizierte Seele hier gerade in ein Blatt eines Baums gefahren ist, ist die «vogelgleiche» Mira, die früher Studentin für Kunstkritik war und jetzt als Lampenverkäuferin arbeitet. Es ist die Zeit vor der «Freundschaftsrevolution», und bevor «die Welt an ihrer einzigen Aufgabe scheiterte – eine Welt zu bleiben» – oder anders: bevor die Jahreszeiten «postmodern» wurden. Wie ein düsterer Schleier liegt eine resignierte Trauer über dem Zustand der Welt in «Reine Farbe», was den Titel noch irrealer, noch verheissungsvoller erscheinen lässt, als er dies im Text selber tut. Dort ist die reine Farbe ein versprochenes Geschenk des Vaters an die Tochter: «nicht irgendetwas Gefärbtes, sondern Farbe an sich!» Weil es «etwas an sich» allerdings nicht gibt und weil der Vater wie alle Väter sterben wird, bevor man genug Zeit mit ihm verbringen konnte, weil man «zu tun» hatte, verliebt sich Mira in eine annähernd perfekte Lampe in ihrem Lampengeschäft, stiehlt diese und wird beinahe glücklich in ihrer «kümmerlich kleinen Existenz, die ihr ganz allein gehörte».

Die Seele des Vaters

Statt endlich anzuhalten aber wirkt das Universum weiter, wie es zu wirken beliebt, und nachdem Miras Vater in ihren Armen gestorben ist, findet eine Übertragung statt, anlässlich derer die bärengleiche Seele des Vaters auf feinstofflich-sexuelle Art in Miras Inneres dringt und dieses aufwirbelt. Und wenn das Universum in der allgemein sehr schönen deutschen Übersetzung von Thomas Überhoff die Seele des Vaters nicht wie im englischen Original in sie «ejakuliert», sondern nur noch «eingepflanzt» hat, kann sich diese Wärme, «die sie erfüllte, die sie durchdrang», immer noch in Form von «unbegrenztem, explodierendem Licht» in ihr ausdehnen.

Wer literarische Epiphanien ohne den ganzen einengenden religiösen oder moralischen Überbau zu schätzen weiss, findet in «Reine Farbe» mehr als einen solchen Moment, in dem dieser seltsame und ziemlich unvergleichliche Text sanft mystisch zu pulsieren beginnt.

Buchcover von «Reine Farbe»

Sheila Heti: «Reine Farbe». Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Thomas Überhoff. Rowohlt Verlag. Hamburg 2023. 224 Seiten. 35 Franken.