Film: Das Homevideo als Schlüssel

Hinter der Kamera: der erste Ehemann. Auswahl und Montage hat der Sohn David besorgt. Der Kommentar zu den bewegten Amateurbildern kommt von der amtierenden Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux, die auch den Text eingesprochen hat. Und wäre sie heute nicht eine weltberühmte Schriftstellerin, hätte es dieser einstündige Zusammenschnitt alter «Homevideos» aus dem Hause Ernaux niemals auf die Kinoleinwand geschafft. Trotzdem ist «Les années Super 8» ein Glücksfall, zumindest für diejenigen, die mit Ernaux’ Literatur vertraut sind. Denn die unspektakulären privaten Szenen einer Familie und einer Ehe ergänzen ihre literarischen Querschnitte durch das eigene Leben mit einer entscheidenden Einsicht: Es ist, als ob wir wieder neu und von aussen auf den Klassenkosmos blicken, den Ernaux in ihren Texten aus einer hochreflektierten Innenperspektive beschreibt.
Plötzlich sehen wir Ernaux’ Mutter mit eigenen Augen; erkennen, wie der Klassenaufstieg der Tochter diese Mutter – ihre Kleider, ihr ganze Erscheinung – in einen Fremdkörper verwandelt, der nicht richtig in die mit schicken Möbeln dekorierte neureiche Wohnung passen will. Auch Ernaux selber schaute bei der Herstellung des Films mit geschärftem Blick auf ihr altes Leben und die unterdessen verstorbene Mutter zurück. Begreift, wie liebevoll sich diese um die Kinder kümmerte, versteht, was sie damals nicht sehen konnte oder wollte: dass sie selber im neu erreichten Wohlstand brüsk auf ihre Mutter herabschaute. Es braucht Mut, sich und die eigenen Texte einer weiteren solchen Selbstbefragung auszusetzen.
Ebenfalls aufschlussreich: wie schambehaftet das Schreiben für Ernaux anfangs war. Wenn die Kamera sie bei der Arbeit an einem Manuskript ertappt, zuckt sie gleichsam zusammen. Mit der befreienden Publikation ihres Erstlings «Les armoires vides» 1974 beschleunigte sich die Entfremdung von ihrem Ehemann. Wir verfolgen alles gebannt auf diesen wie mit feinem Dampf beschlagenen und dank des unerbittlichen Kommentars doch so ausdrucksstarken Bildern.