«Ein Leben»: Unbehagen in den Rängen

Nr. 45 –

Annie Ernaux’ Texte auf die Bühne bringen: Kann das funktionieren? Das tut es durchaus – allerdings nicht aus den erwarteten Gründen, wie ein Theaterabend in Bern eindrücklich zeigt.

Bühnenfoto des Theaterstück «Ein Leben»
Erleben und erinnern: Vier Schauspielerinnen verkörpern Annie Ernaux. Foto: Annette Boutellier

Nach knapp zwei Stunden ist das Leben durchgespielt, und man sitzt atemlos im Theatersessel. Oder: Man kann jetzt vielleicht wieder atmen.

Kein leichtes Unterfangen, das sich Regisseurin Stina Werenfels – eigentlich im Film beheimatet («Nachbeben», «Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern») – für ihr Theaterdebüt ausgesucht hat. Aus den Texten von Annie Ernaux einen Theaterabend zu konzipieren, der, mit «Ein Leben» betitelt, genau das einfangen soll: das Leben einer Frau, geboren 1940 in eine Unterschichtsfamilie, Klassenaufstieg durch Studium, später das Schreiben, den Fokus dabei immer auf ein spezifisch weibliches Erleben von Liebe und Sexualität und die darin eingeschriebenen Machtungleichheiten.

Ernaux, die letztes Jahr den Literaturnobelpreis erhielt, beschreibt sich in ihren Texten nicht aus der Ich-Perspektive, sondern als «sie»: Nicht nur so zeigt sie, wie eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben nicht selbstbezogen und eitel sein muss, sondern sich in einer bestimmten Lebenswelt verortet, mit all den politischen, kulturellen, sozialen Bezügen. Werenfels löst das auf der Bühne schlüssig: Sie lässt ihre Protagonistin von vier Schauspielerinnen in verschiedenen Lebensaltern gleichzeitig spielen, wobei die älteste oft eine aussenstehende Position einnimmt. Sie sitzt etwas an den Rand gerückt an einem kleinen Holzpult, kommentiert zigarettenrauchend das Geschehen und verkörpert die älter gewordene Ernaux, die ihren jüngeren Versionen zusieht, deren Handeln erzählt. Dazu kommen ein älterer und ein jüngerer Schauspieler, die unterschiedliche Männerrollen auf dem Lebensweg einnehmen.

Warum hier rumsitzen?

So legen sich das Erleben und das Erinnern übereinander, werden zu einer Geschichte, die weit über eine individuelle Biografie hinausgeht. Wie stark Ernaux’ Texte sind, kann man hier mit Freude erleben: Der gesamte Sprechtext ist aus den Büchern «Die Jahre», «Erinnerung eines Mädchens», «Das Ereignis» sowie «Der junge Mann». Auch vorgetragen wirken die Texte eindringlich, trotz der vielen Informationen zugänglich und lebendig. Dennoch kann man durchaus fragen: Musste das sein, sie auf die Bühne zu bringen? Gerade weil sie so ungemein anschaulich sind, drängt sich erst einmal das Gefühl auf, man könne und müsse ihnen gar nichts hinzufügen. Auch keine passenden Kleider und Requisiten aus der jeweiligen Zeit, keine Filmausschnitte oder Musik, wie es hier geschieht – bei Ernaux ist das alles im Imaginären schon da. Warum also hier rumsitzen?

Eine mögliche Antwort drängt sich nach ungefähr einem Drittel des Abends auf: Als mehrere brutale Szenen aneinandergereiht werden – die Vergewaltigung aus «Erinnerung eines Mädchens», die Bulimieerfahrung aus «Die Jahre», anschliessend ausführlich und detailreich die damals in Frankreich illegale Abtreibung in mehreren Versuchen aus «Das Ereignis» –, breitet sich im Publikum Unbehagen aus. Es rumort in den Rängen, einigen wird so unwohl, dass sie den Saal verlassen müssen. Das ist niemandem zu wünschen. Trotzdem wird an diesem Abend klar, was das gemeinsame Erleben dieses Textes ausmachen kann: Man sitzt eben nicht alleine in der Kammer und liest, sondern muss als relativ zufällig zusammengewürfeltes Publikum diese Schilderungen gemeinsam (er-)tragen.

Eine kollektive Erfahrung anstelle einer vermeintlich individuellen? Das kann ganz im Sinn von Ernaux’ Schreiben sein. Wie ein zeitgemässer Umgang mit einer solchen Situation aussehen könnte, wäre dann eine andere Frage: «Ein Leben» ist auf der Website von Bühnen Bern zwar mit Inhaltswarnungen versehen, trotzdem ist nicht jede Reaktion – auch nicht die eigene – erwartbar. Wie den Saal in den engen Gängen im Dunkeln verlassen, wenn man glaubt, sich gleich erbrechen zu müssen? Und dann sowieso: Wohin mit sich?

Verstörender Reigen

Es ist sicher nicht unproblematisch, dass in der Inszenierung diese Ereignisse, in Ernaux’ Texten stärker voneinander getrennt, so dicht aneinander erzählt werden. So bleibt kaum Zeit, sich mit den einzelnen Themen auseinanderzusetzen. Ist das eine vorbei, wird gleich das Nächste aufgetan, und man findet sich in einem verstörenden Reigen von Grenzüberschreitungen und körperlicher Gewalt wieder. Wenn die Tiefschläge eines (weiblichen) Lebens derart zusammengezurrt werden, geht etwas Wesentliches aus Ernaux’ Texten verloren: Was sich dort langsam, aber stetig anbahnt, sich in Erinnerungen, Redewendungen, Werbung, Freizeitaktivitäten einbettet, wird einem auf der Bühne um die Ohren gehauen. Gnadenlos sind beide Varianten, Letztere leider eine Spur zu reisserisch. Aber sie wirkt, das zeigen auch die Reaktionen des Publikums.

Ein überragender, aber auch einer der schmerzhaftesten Momente des Stücks ist gerade ein solcher, in dem diese Einbettung funktioniert. Nach der Abtreibung, die die Protagonistin nur knapp überlebt hat: Schnitt. Nun werden Möbel in Stil und Farbe der späten Sechziger zu einer guten Stube arrangiert, in der sie das nächste Jahrzehnt verbringt – Ehe, Kinder, ein kleinbürgerlicher Entwurf. Durch den Raum weht Jane Birkins und Serge Gainsbourgs «Je t’aime … moi non plus» von 1969. Ganz kalt wird einem bei dem Gedanken, was «entre tes reins» gerade alles geschehen ist – was der oft immer noch als «französisch» verstandene lockere Umgang mit Liebe und Sexualität mit den Frauen in einem Land angerichtet hat, in dem Abtreibung bis 1975 illegal war. Nachher geht das Leben einfach weiter.

«Ein Leben» nach Annie Ernaux in: Bern, Bühnen Bern, Vidmar 1. Weitere Aufführungen am 15. November 2023, 22. November 2023, 28. Dezember 2023, 5. Januar 2024, jeweils um 19.30 Uhr.