Sophie Jamieson: Raus aus der Scham

Nr. 13 –

Sie galt einst als grosses Versprechen, doch dann blieb es lange still um Sophie Jamieson. «Choosing» ist nun das erste Album einer Singer-Songwriterin, die gelernt hat, sich Sorge zu tragen.

Portraitfoto: Sophie Jamieson steht an einem Gewässer
Lieder wie verheilte Narben: Sophie Jamieson. Foto: Tatjana Rüegsegger

Es geht los mit einem Filmriss, Sophie Jamieson singt wie mit schwerer Zunge. «Addition» heisst das Lied, zur Sucht fehlt nur ein Buchstabe. Gestern, was war da? Ein Loch im Gedächtnis, aber sie will doch mehr sein als die Summe des Alkohols in ihrem Blut. Im nächsten Song, «Crystal», klingt die Stimme plötzlich viel heller, zu einem gedämpften Piano, das sachte abwärts tänzelt. Aber der Rausch begleitet sie weiter, wie er die Umrisse aufweicht. Alles ein wenig verschwommen und nichts so hart, dass es brechen könnte, so fühle sie sich sicher – «almost enough to feel like love». Nur fast genug, dass es sich so anfühlt, als wärs Liebe: so viele Relativierungen in so wenigen Wörtern.

So beginnt «Choosing», das erste lange Album von Sophie Jamieson. Es ist das stolze, aufwühlende Zeugnis einer Musikerin, die gelernt hat, sich selber Sorge zu tragen – aber wie beschwerlich und schambehaftet der Weg dahin war, daran lassen diese brüchigen Songs nie einen Zweifel. Es sind Lieder wie verheilte Narben. Immer wieder verzweifelte Versuche, eine Leere zu füllen mit dem, was sie fälschlicherweise für Zuneigung hält, oder auch nur mit Alkohol, schlimmstenfalls mit beidem.

Am Boden zerstört

Schon einmal galt die Londonerin als grosses Versprechen. Bald zehn Jahre ist das her, sie war 22 Jahre jung damals. Eine erste EP mit fünf Songs sorgte für Aufsehen, eine erste Auslandtour führte sie durch Deutschland und auch in die Schweiz, ans Festival One of a Million in Baden. Doch danach kam sehr lange: nichts mehr. Was war passiert?

Wenn Sophie Jamieson im Gespräch in jene Zeit zurückblendet, klingt das wie eine Lehrstunde aus dem kreativen Prekariat. «Ich war bald ausgebrannt. Ich arbeitete Vollzeit in einem Bürojob, probte mehrmals die Woche mit meiner Band, spielte Konzerte. Ich versuchte, Songs zu schreiben, aber ich war so müde.» Und dann, bei den Aufnahmen für eine zweite EP, geriet sie an den falschen Produzenten: «Es lief nicht gut, wir hatten heftige Auseinandersetzungen. Er wollte dann, dass ich ihn für die Arbeit bezahle, die in meinen Augen gar nicht fertig war.» Sie verlor die Aufnahmen, und ihr fehlte die Energie, um nochmals neu anzufangen. Bis heute wisse sie nicht genau, was damals passiert sei, sagt sie: «Aber es war mit ein Grund, dass ich danach vier bis fünf Jahre lang gar keine Musik mehr machte.»

Verstummt also, am Boden zerstört. Aber keine Musik mehr zu machen, war auch nicht gesund. «Es war ein Gefühl, wie wenn du andauernd jemandem begegnest, mit dem du mal zusammen warst und über den du noch nicht hinweg bist.» Heute sagt sie: «Ich rannte fünf Jahre lang vor mir selbst davon und schämte mich für mich, in vielerlei Hinsicht.»

Diese Scham und das geraubte Selbstvertrauen geistern nun auch durch die neueren Songs. Etwa in «Concrete», die Wange gegen Beton gepresst: «My heart fits perfectly between the cracks in the pavement», singt sie da, «mein Herz passt genau in die Risse im Belag». Ob die Risse im Asphalt so gross sind oder ihr Herz so winzig? Egal, sie klingt entspannt und stolz hier – zwischen den Ritzen, heisst es in der zweiten Strophe, könne sie endlich ausruhen.

Der Song ist auf «Release» erschienen, einer von zwei EPs, mit denen sich Sophie Jamieson 2020 zurückmeldete. Aufgenommen hat sie beide ohne Label im Rücken, zusammen mit der Produzentin Steph Marziano, die ihr nach der traumatischen Erfahrung von einst die Nervosität vor dem Studio genommen hat. Ist es ein Unterschied, wenn eine Frau an den Reglern sitzt, was immer noch selten genug ist? Sie habe ja nicht deshalb mit Marziano gearbeitet, weil sie eine Frau sei, sagt Jamieson: «Aber es gibt schon den Aspekt, dass du dich emotional sicher fühlst mit einer anderen Frau im Studio.» Auch das aktuelle Album hat sie mit Steph Marziano aufgenommen. Doch wo die Songs von 2020 oft noch von gedämpfter, unwirklich zarter Elektronik getragen waren, schlägt sie auf «Choosing» nochmals eine andere Richtung ein: immer noch sparsam instrumentiert, aber offener, organischer, in den Harmonien auch überraschender.

Plötzlich gehts schnell

Mit dem fertigen Album musste sie allerdings auch erst hausieren gehen. Erschienen ist es dann auf Bella Union, dem erlesenen Label von Simon Raymonde von den Cocteau Twins. Dabei hatte Jamieson gehofft, dass es nach den zwei EPs von 2020 leichter würde mit einem Album. Aber das sei nicht der Fall gewesen: «Es war schwierig, ich habe alles im Voraus bezahlt mit dem Geld, das ich mit meinem Job in einer Bar verdient habe. Ich weiss nicht, was passiert wäre, wenn Bella Union nicht aufgesprungen wäre.»

Sie ist jetzt schon wieder im Studio, es hat sich viel Musik aufgestaut bei ihr. «Früher war ich eine sehr langsame Songschreiberin, das ist heute anders. Es ist faszinierend: Ich wusste nicht, dass sich das ändern kann.» Live tritt sie bis auf Weiteres allein auf, nicht nur wegen der Kosten. Die Energie, die es bräuchte, eine Band zusammenzustellen, wolle sie lieber nutzen, um gleich weiterzumachen. Und dann sagt sie etwas, was ganz beiläufig ihr neues Selbstvertrauen zeigt: «Die meisten meiner Songs können gut für sich stehen, wenn ich sie solo spiele. Diesen Vorteil hat nicht jede:r.»

Album-Cover «Choosing» von Sophie Jamieson

Sophie Jamieson: «Choosing». Bella Union / Musikvertrieb. 2022.