Erwachet!: Luftschlösser
Michelle Steinbeck über analoges und digitales Wohnen
Der «Tages-Anzeiger» hat sich in den letzten Wochen ins Zeug gelegt zum Thema Wohnungsnot. Fast täglich durfte ein anderer hochkarätiger «unabhängiger Immobilienfachmann» seine Expertise zum Besten geben. Das klang dann etwa so: «Der Immobilien-Chefökonom der Credit Suisse sagt, wo sich die Knappheit verschärfen wird.» Irgendwas mit wer die Verantwortung trägt, stand da auch, aber ich schweife ab.
Der Hauseigentümerverband packt also den Taschenrechner aus, wie auch im «Tagi» steht: «Die Belastung durch Wohnkosten sei seit 20 Jahren durchschnittlich stabil bei 15 bis 20 Prozent der Haushaltseinkommen. Von einer immer höheren Belastung der Mieterinnen und Mieter könne deshalb keine Rede sein.» Alle, die das diffuse Gefühl verspürt haben, die Mieten seien doch irgendwie irgendwann gestiegen, können also beruhigt sein.
Ebenso jene, die zu argwöhnen wagen, ihre Vermieter:innen würden geradezu widerrechtlich hohe Mieten verlangen. Das klärt der Chefökonom der Raiffeisenbank ein für alle Mal: «Ein nicht gesetzeskonformer Mietzins liegt nämlich nur dann vor, wenn er im konkreten Fall vor Gericht angefochten wird.» Klar, oder? So wie ein Räuber nur ein Räuber ist, wenn er fürs Räubern im Käfig sitzt.
Neben dem üblichen bürgerlichen Bullshitting präsentierte der «Tagi» aber auch erfrischende Ansätze. So wurde eine Reportage der «günstigsten Wohnung der Schweiz» gewidmet. Gratis dazu gabs den aufmunternden Lead: «Wohnungsnot? Explodierende Mieten? Längst nicht überall.» Also: Verzweifelte Wohnungssuchende dürfen aufatmen! Ab vom Schuss im Schattental gibt es noch zahlbare Wohnungen. Danke, Banke. Der Artikel möchte ausserdem zum Nachdenken anregen, nicht zuletzt mit folgendem Satz: «Dass es auch abseits der Zentren schön sei – vor allem im Homeoffice –, gehe oftmals vergessen.»
Am schönsten ist es sowieso im Metaverse. Während sich Normalsterbliche noch um analoges Wohnen sorgen, beackern die Innovationsbolzen der Immobilienbranche längst digitale Gefilde: Investiert wird in «Grundstücke» in immersiven Onlinewelten mit Namen wie Sandbox oder Decentraland, wo laut «New York Times» «Avatare arbeiten, spielen und einkaufen können». Seit Mark Zuckerberg 2021 mit seiner Verkündung, Facebook heisse nun Meta, sein Vertrauen in die Zukunft der digitalen Shopping- und Eventlandschaften demonstriert hat, haben die virtuellen «Bodenpreise» siebenstellige Beträge angenommen. Die «New York Times» meint: «Der Markt für Immobilien im Metaverse könnte bis 2026 um 5,37 Milliarden Dollar wachsen.» (Zugegeben, für Schweizer Ohren klingt das mittlerweile nach einer Lappalie, eine einstellige Anzahl Milliarden.)
Aber wer will denn nun imaginäre Immobilien für mehrere Millionen Dollar? «Der Kauf eines Grundstücks zu Wohnzwecken im Metaverse ist Prestige», erklärt die Journalistin Kristi Waterworth. Ein Investor nennt es eine «echte Gelegenheit». Denn reguliert wird hier noch weniger als in der echten Welt: Finanztransaktionen im Metaverse werden in Kryptowährung abgewickelt, und «Käufer, die sich Sorgen machen über Steuern für virtuelle Immobilien, können sich entspannen».
Allen Nichtsuperreichen bleibt zur Entspannung die kostenlose Betaversion «Fantasie»: Augen zu und sich die Traumvilla vorstellen. Oder progressive Steuern.
Michelle Steinbeck ist Autorin und verdrängte Exstadtzürcherin.