Enteignungen: «Die falschen Leute bauen die falschen Häuser»

Nr. 18 –

Ökonomin und SP-Nationalrätin Jacqueline Badran sieht keine Wohnungs-, sondern eine Systemkrise. Die Immobilienbranche produziere vor allem Betongold. Helfen da Enteignungen?

 Jacqueline Badran am 1.-Mai-Fest in Zürich
«Grundsätzlich sollte der Boden der Allgemeinheit gehören»: Jacqueline Badran am 1. Mai.

Das 1.-Mai-Fest in Zürich hat dieses Jahr mehr Platz: Die Kasernenwiese ist frei geworden, seit die Polizei einen neuen Prunkpalast bezogen hat. Wird die Kaserne nun ein Freiraum oder doch wieder nur ein Beispiel für die Gentrifizierung? Am Fest zwischen Schaschlikrauch und Punksound ist die Stadtentwicklung auch sonst das bestimmende Thema. Miet­­­­aktivist:innen sammeln Unterschriften für eine Enteignung der CS-Immobilienfonds, Besetzer:innen zimmern rollende Häuser für die Demo.

Ans Fest ist auch Jacqueline Badran gekommen, die zu den profilierten Immobilien- und Bodenpolitiker:innen der Schweiz gehört. Was für Antworten hat sie auf die Wohnungskrise?

WOZ: Jacqueline Badran, wir haben in unserer letzten Ausgabe als Antwort auf die steigenden Mieten Enteignungen gefordert. Was halten Sie von der Idee?

Jacqueline Badran: Das ist ein bisschen eine ambivalente Sache. Grundsätzlich sollte der Boden der Allgemeinheit gehören, das ist keine Frage. Der Boden – und alles, was darauf steht und darin steckt – ist eine primär essenzielle Güterklasse wie Wasser und Luft. Wir alle brauchen Boden, damit wir leben können. Mit der Bodenrente wird zudem ein leistungsfreier Ertrag erzielt. Das historisch berühmteste Beispiel ist die Abgabe des Zehnten an die Feudalherren. Die bürgerliche Revolution richtete sich gegen den bodenbesitzenden Adel, der das Privileg hatte, die Bodenrente zu erhalten. Insofern ist völlig klar, dass der Boden vergemeinschaftet gehört.

Trotzdem finden Sie die Idee ambivalent. Warum?

Sie tönt zwar theoretisch gut, lässt sich aber praktisch kaum realisieren. Auf absehbare Zeit fehlen schlicht die Mehrheitsverhältnisse. Obwohl es in der Schweiz seit dem 12. Jahrhundert eine lange Tradition der gemeinsamen Nutzung des Bodens gibt: die Genosssamen, die Genossenschaften, die Korporationen. In Uri gehören immer noch achtzig Prozent des Bodens den Korporationen.

Ist das nicht eine etwas romantische Referenz? Die Korporationen sind ja nicht dafür bekannt, für alle offenzustehen.

Natürlich organisierten sich darin früher die mehrbesseren Bauern. Aber sie waren ein Gegenmodell zum zehntenpflichtigen feudalen und klerikalen Grundbesitz, mit dem demokratische Prozesse zur Verteilung und Nutzung des Bodens durchgesetzt wurden. Im Grunde ist die Situation heute gar nicht gross anders: Wir zahlen immer noch einen modernen Zehnten, nur dass das globale, anonyme Kapital der moderne Landvogt ist.

Wobei dieses anonyme Kapital durchaus Namen und Adresse hat: etwa die Immobilienfonds der Credit Suisse, die am Paradeplatz domiziliert sind. Unterstützen Sie die Petition zu deren Enteignung?

Ich teile die Auffassung, dass uns die Credit Suisse doch etwas schuldet, nachdem wir sie alle gerettet haben. Eine Enteignung ihrer Immobilienfonds ist aber von Gesetzes wegen nicht durchsetzbar. Ich glaube auch, dass es elegantere Wege als die Enteignung gibt. Beispielsweise ein Vorkaufsrecht, mit dem wir den Boden für die Allgemeinheit zurückkaufen können. Ich habe dazu einen Vorstoss gemacht. Allerdings ist es realistischer, dass eine Kuh klettern lernt, als dass dieser Vorschlag durchkommt. Zumindest in Bundesbern.

Sie sagen, Enteignungen seien gesetzlich nicht durchsetzbar. Warum?

Weil es dafür ein öffentliches Interesse geben muss. Und obwohl es unbestritten eines gibt – weil eben der Boden allen gehören müsste –, wird das natürlich verneint. Ausser im Wallis, dort wurde sogar einmal eine Enteignung für einen Golfplatz für den Tourismus bewilligt. Und das Bundesgericht hat das gestützt.

Was als öffentliches Interesse gilt, hängt also von der Mehrheitsmeinung ab.

Genau, und schon sind wir wieder bei den Machtverhältnissen. Und beim fehlenden Wissen. Wenn man alte Texte liest, staunt man über das grosse Wissen, das es noch vor fünfzig Jahren über die Bodenrente gab. Ludwig von Moos etwa sprach sich für eine «Verhinderung der Immobilie als blosse Kapitalanlage» aus. Der war kein Marxist, sondern ein stockkonservativer CVP-Bundesrat. Es gab eine völlig andere Sensibilität. Ich frage mich bei der Bodenfrage häufig: Hallo, Wissen, wo bist du hin?

Klären Sie uns auf: Welche Formen der Bodenrente gibt es?

Es gibt fünf Sorten: Die erste ist der Pachtzins, geregelt über das bäuerliche Bodenrecht. Die zweite der Mietertrag für alles, was auf dem Boden steht. Drittens kann ein Verkaufsgewinn erzielt werden. Viertens gibt es den Planungsmehrwert, also Planungsgewinne, die etwa bei der Erlaubnis zur Aufstockung von Gebäuden entstehen. Und damit kommen wir fünftens zum allergrössten Posten der Bodenrente.

Nämlich?

Zu den Infrastrukturgewinnen. Jedes Bauprojekt löst Investitionen der öffentlichen Hand aus. Man muss Strassen bauen, den ÖV in die Nähe ziehen, ein Schulhaus bauen. Und was passiert bei jeder Investition der öffentlichen Hand? Der Wert von Boden und Immobilien steigt gewaltig! Das macht die Immobilienbranche zur mit Abstand am stärksten subventionierten überhaupt. Eigentlich hätten wir Steuerzahler:innen alle jährlich ein grosses Dankesschreiben verdient. Stattdessen fliessen die Erträge aus den Bodenrenten, die absolut leistungsfrei erworben werden, zu den kommerziellen Land- und Immobilienbesitzer:innen. Seit wir die Lex Koller gelockert haben, gehören auch all die Investmentgesellschaften der Welt dazu: Blackrock, JP Morgan, Paribas, Citigroup.

Was würde es bedeuten, wenn alle Immobilien im Besitz der Allgemeinheit wären und sie von den Renten profitierte?

Machen wir dazu ein Gedankenexperiment. Wenn die Gemeinden, Kantone und der Bund allen Boden aufkaufen würden, kostete das 4,3 Billionen Franken. Wenn wir nun für unsere Mieten für das Wohnen und das Gewerbe eine Nutzungsgebühr von zwei Prozent zahlen würden, würde der Bund jährlich 86 Milliarden einnehmen.

Das entspricht exakt dem diesjährigen Bundesbudget.

Genau! Der Bund könnte also alle Steuern abschaffen, von der Einkommens- über die Mehrwert- bis zur Tabaksteuer. Und wir alle würden erst noch günstiger wohnen und tiefere Geschäftsmieten bezahlen.

Dieses Gedankenexperiment ist ja schön und recht …

Nein, das ist wichtig zum Verständnis. Das Experiment ist nicht schön und recht, sondern: Kern der Sache!

Liest man sich aktuell durch die Medien, erscheint dort etwas anderes als Kern der Sache: dass zu wenige Wohnungen gebaut werden, was zu einer Wohnungsnot führt.

Das ist pure Propaganda der Immobilienlobby. Seit ich jung bin, gibt es eine Wohnungsnot. Wir hatten die meiste Zeit viel tiefere Leerwohnungsziffern als heute. Es liegt in der Natur der Sache, dass es dort, wo es Arbeitsplätze gibt, eine Übernachfrage nach Wohnungen gibt. Deshalb ist der Wohnungsmarkt auch kein richtiger Markt, das lernt man schon im ersten Semester an der HSG. Er ist vielmehr ein reiner Preissetzermarkt: Derjenige, dem die Immobilie gehört, kann den Preis setzen, und er wird das Maximum abschöpfen, solange ihn die Gesetze nicht davon abhalten.

Im Gesetz werden die Mieten vom Bund reguliert.

Tatsächlich haben wir ein philosophisch gescheites Mietrecht, das sagt: Man darf keine beliebige Rendite machen, es gibt eine Kostenmiete, die sich nach den realen Kosten zu berechnen hat. Dazu eine gedeckelte bescheidene Rendite. Bloss gilt das nur noch in der Theorie. De facto wurde die Marktmiete seit den neunziger Jahren schleichend Realität: indem man jegliche Kontrollmechanismen zur Einhaltung dieses Renditedeckels entweder verhindert oder abgeschafft hat.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Man hat sich etwa geweigert, die Vermieter:innen zu verpflichten, bei einer Neuvermietung den Vormietzins bekannt zu geben. Dabei wäre das zwingend, damit Mieter:innen überhaupt die Gelegenheit dazu haben, den Mietzins anzufechten. Wenn du die Vormiete nicht kennst, wie sollst du dann entscheiden, ob es sich lohnt, vor die Schlichtungsstelle zu gehen?

Sie haben die Rede von der Wohnungsnot infrage gestellt, doch die ist ja nicht nur ein mediales Thema. Wir spüren auch in unseren Quartieren, wie die Mieten steigen.

Die Mieten schnellen seit vielen Jahren in die Höhe, aber die simple Erklärung, dass wir über zu wenige Wohnungen verfügen, ist falsch. 2008 begann nach der Subprime- und Finanzkrise eine Tiefzinsphase. Damals lag die Leerwohnungsziffer bei 0,9. Das entspricht dem jahrzehntelangen Durchschnitt. Aus Sicht des Kapitals bedeuten tiefe Zinsen auch tiefe Kapitalkosten. Alternative Anlageobjekte wie Obligationen und Aktien gaben weniger her oder sind erst noch risikoreicher. Also wurde viel mehr Geld ins Betongold parkiert: Es wurde gebaut und gebaut. Die Leerwohnungsziffer ist bis 2020 auf 1,8 gestiegen. Noch vor zwei Jahren rannten die Journalist:innen umher: Leerwohnungen überall! Sinken jetzt die Mieten? Als ob die Mieten eine Frage von Angebot und Nachfrage wären. Die Mieten sind nie gesunken, sie sind immer gestiegen, obwohl sie wegen der tiefen Zinsen hätten sinken sollen. Eben weil die Preise gesetzt werden.

Und was hat das mit dem Wohnungsmangel zu tun?

Die falschen Leute bauen nach der falschen Logik die falschen Objekte. Das ist eine reine Kapitalverwertungsveranstaltung. Wäre nach einer gemeinnützigen Logik gebaut worden, wäre jetzt alles anders: Wir hätten genügend günstige Wohnungen, die sich alle leisten könnten. Was nun hat sich 2020 geändert? Die Zinsen sind gestiegen. Das hatte man vorher schon antizipiert, die Zahl der Baugesuche ging zurück. So ist auch die Leerwohnungsziffer auf 1,3 Prozent gesunken. Sie liegt damit immer noch weit über dem jahrzehntelangen Durchschnitt. Trotzdem schreien alle nach Deregulierung der Planungs- und Baugesetze.

Die Mieten steigen also aus systemischen Gründen und nicht wegen der Knappheit.

Genau! Wenn der Trend weitergeht, werden wir zwar tatsächlich irgendwann zu wenige Wohnungen haben. Aber warum? Weil die falschen Leute aus den falschen Motiven bauen. Es geht um die maximale Rendite, und nicht darum, den Menschen Raum zur Verfügung zu stellen, wie das bei Genossenschaften der Fall ist.

Wie würden Sie die Krise bezeichnen, wenn nicht als Wohnungskrise?

Als Immobiliensystemkrise. Weil die Immobilien, die unser Daheim sind, unsere Büros und Betriebsstätten, unsere Orte, an denen wir Kultur machen oder die Freizeit verbringen, zur Anlageklasse umfunktioniert werden. Die beste und simpelste Lösung der Systemkrise ist es, die Eigentumsverhältnisse zu ändern.

Eben doch: Enteignen!

Ich sagte ja, der Boden müsse allen gehören. Alles andere ist nur Flickwerk. Aber wir leben nun einmal in einer anderen Welt.

Was ist in dieser zweitbesten Welt dringend?

Viel mehr genossenschaftlicher Wohnbau. Und: Bis Ende der siebziger Jahre führte der Bund Mietpreiskontrollen durch. Wer die Mieten erhöhen wollte, musste eine Bewilligung einholen. Gegen ihre Abschaffung sperrte sich auch die CVP lange. Weil es damals noch Common Sense war, dass steigende Mieten auch dem Gewerbe und der Industrie schaden, weil sie Druck auf die Löhne ausüben und die Kaufkraft mindern. Wir brauchen wieder einen Automatismus, der die Einhaltung des Renditedeckels überprüft. Etwa eine periodische Revisionspflicht für Vermieter:innen, so wie wir das von der Beitragskontrolle der AHV oder der Mehrwertsteuer kennen. Wer mehr als fünf Wohnungen vermietet, soll alle paar Jahre seine Bücher offenlegen: um zu beweisen, dass er keine gesetzeswidrige Rendite einfährt.