Auf allen Kanälen: Was krass war

Nr. 19 –

Der Medienkonzern «Vice» steht vor dem Konkurs. Nach knapp dreissig Jahren ist es Zeit für einen Abgesang.

stilisierter Ausschnitt aus dem Logo des Vice-Magazin

Laut einem Bericht der «New York Times» steht «Vice» vor dem Bankrott. Der Medienkonzern, der online Artikel und Videos publiziert, versprach einst mit dem Slogan «The Revolution Will Be Televised», Protestbewegungen weltweit von nahem zu begleiten. Mindestens so nah berichtete «Vice» – englisch für «Sünde, Laster» – über Drogenkonsum (auch jenen der Autor:innen), Sex (häufig in Form von Pornografie) und Subkultur.

Das Unternehmen mit Tausenden von Mitarbeiter:innen ist wohl das erfolgreichste Projekt der kanadischen Arbeitsintegration: 1994 von drei Männern in Montreal im Rahmen eines Beschäftigungsprogramms für Arbeitslose als gedrucktes Magazin gegründet, begleiteten es Regisseure wie Spike Jonze («Jackass», «Her»), der für «Vice» Dokumentarfilme drehte, vom Printmagazin ins Internetvideozeitalter. Im deutschsprachigen Raum sammelten Hanna Herbst, die die Recherche beim «ZDF Magazin Royale» leitet, oder die Autorin Stefanie Sargnagel Schreiberfahrung bei «Vice».

Bei der Entführung dabei

Ob in Video- oder Textform: Bei «Vice» berichten keine um Objektivität bemühten Reporter:innen, sondern eigenwillige Persönlichkeiten, deren Sprache und Relevanzverständnis durch keine Reportageschule geglättet wurde. Das machte «Vice» zu einem Ort, wo auch absurde und abseitige Ideen willkommen waren. Zuletzt stach besonders die letzte Schweizer «Vice»-Autorin Anna Dreussi hervor mit Texten wie «Ich habe alle Kontakte in meinem Adressbuch angerufen».

Der subjektive Zugang war das Geschäftsmodell von «Vice» – was Influencer:innen heute direkt auf Social Media teilen, erschien hier noch unter einer Medienmarke: behaupten, was cool, wichtig, begehrenswert ist. Die hauseigene Marketingagentur Virtue verkaufte ihren Kund:innen die kontroverse Reputation von «Vice». Als ich vor etwa zehn Jahren in Zürich für das Magazin arbeitete, sollten wir einmal tatsächlich für eine Automarke ein besetztes Areal finden, um das neuste Automodell zu inszenieren. Bei «Vice» musste man sich nicht in Mässigung und Ausgewogenheit üben – dafür war die Trennung von Marketing und Journalismus zumindest zeitweise unterentwickelt.

Die Revolution, die «Vice» angeblich übertragen wollte, war lange Zeit auch alles andere als feministisch. «Die Misogynie sah vielleicht anders aus als in den 1950ern, aber sie war noch immer da», sagte die Investigativjournalistin Kayla Ruble, von 2014 bis 2016 bei «Vice», Ende 2017 in einer #MeToo-Recherche der «New York Times» über Übergriffe in den US-Büros des Mediums. Die zwei verbliebenen Gründer gaben im Artikel zu, dass sie keine sichere Arbeitsumgebung für Nichtmänner geschaffen hatten. Der dritte Gründer, Gavin McInnes, war schon seit den nuller Jahren nicht mehr dabei gewesen. Heute bleibt er vor allem für eine andere Gründung bekannt: für jene der Männer-Alt-Right-Gruppe Proud Boys, die 2021 am Sturm aufs Kapitol beteiligt war.

Die Frauenfeindlichkeit hat sich auch in den zehner Jahren noch in den Journalismus übertragen. Eine Dokumentation über Brautentführungen in Kirgistan von 2011 hat inzwischen auf Youtube vierzehn Millionen Zugriffe. Während der gewalttätigen Entführung sitzt der Journalist im hippen Holzfällerhemd mit im Auto und hält mit der Kamera drauf. Einordnung gibt es kaum, der halbstündige Film bedient vor allem Voyeurismus.

Noch 400 Millionen

Auch neben solchen Extrembeispielen wirkt der Journalismus aus den Glanzzeiten von «Vice» heute seltsam aus der Zeit gefallen. Das gilt etwa für viele Berichte über Verschwörungstheoretiker:innen, die eher als Amüsement für ein urbanes, gebildetes Publikum denn als politische Gefahr gezeigt werden. Interessiert hat im Internet damals, was krass war – unabhängig von den Folgen.

2017, im Jahr, als Donald Trump Präsident wurde, erreichte der Medienkonzern «Vice» seinen höchsten Wert: 5,7 Milliarden US-Dollar. In den Jahren danach hat das Unternehmen gespart und Stellen gestrichen. «Vice» schloss erst das Büro in Zürich, dann auch jenes in Wien, in der letzten deutschsprachigen Redaktion in Berlin arbeitet noch ein Bruchteil der Leute von einst. Ob der Medienkonzern pleitegeht oder, wie das «Wall Street Journal» berichtet, für noch 400 Millionen Dollar verkauft werden könnte: Es geht abwärts.

Der Autor arbeitete von 2013 bis 2015 für die Redaktion von «Vice» in Zürich.