Ralf Leonhard (1955–2023): Lateinamerika sehen, um darüber zu schreiben
Am 21. Mai ist der WOZ-Autor Ralf Leonhard in Wien tödlich verunfallt. Ein Nachruf.
Es war Anfang der achtziger Jahre. Ralf Leonhard war promovierter Jurist und hatte erfolgreich die Wiener Diplomatenschule abgeschlossen. Sein Karriereweg schien vorgezeichnet, aber es gab für ihn wichtigere Dinge, als irgendwo in der Welt in einer österreichischen Botschaft zu sitzen. 1979 hatte in Nicaragua die Guerilla der Sandinistischen Befreiungsfront die Diktatorendynastie der Somozas gestürzt, in dem armen zentralamerikanischen Land schien eine neue, ganz undogmatische Spielart des Sozialismus möglich zu sein. Tausende junge Europäer:innen gingen damals nach Nicaragua, um die Sandinistas bei der Kaffeeernte oder beim Schulhausbau zu unterstützen. Ralf ging, um darüber zu schreiben; hauptsächlich für die linke Berliner «taz». 1983 erschien sein erster Text in der WOZ.
Nicaragua war damals für die europäische Linke der Nabel der revolutionären Welt, für einen linken Journalisten gab es viel Arbeit und dazu die Hoffnung auf einen Dominoeffekt. In El Salvador hatten sich fünf Guerillaorganisationen zum Frente Farabundo Martí (FMLN) zusammengeschlossen, seit 1980 herrschte in diesem kleinsten Land Zentralamerikas ein offener Bürgerkrieg. In Guatemala wurde die kleine Guerilla URNG immer stärker, der Militärdiktator Efraín Ríos Montt reagierte darauf mit einem Völkermord an der indigenen Bevölkerung. Ralf gehörte zu den Journalist:innen, die sich darüber nicht nur erzählen liessen. Er wollte alles mit eigenen Augen sehen. Er war viel unterwegs in den zentralamerikanischen Bürgerkriegsgebieten und auch in Honduras, wo die von den USA aufgebaute antisandinistische Contra ihre Rückzugslager hatte. Er ist bei diesen Recherchereisen oft genug grosse Risiken eingegangen.
Damals war linker Journalismus immer auch solidarischer Journalismus. Die «taz» sammelte mehrere Jahre lang Geld, um damit die FMLN bei Waffenkäufen zu unterstützen. Über eine Million Mark kamen dabei zusammen, eine stolze Summe. Es war etwa so viel, wie die US-Regierung jeden Tag in die salvadorianische Armee und ihre Todesschwadronen investierte. Das Geld wurde in Raten bei geheimen Treffen in Ralfs kleinem Haus in Managua übergeben. Der gelernte Jurist wachte wie ein Notar darüber, dass es bei der Verteilung unter den fünf Guerillaorganisationen mit rechten Dingen zuging und nicht zum Streit kam.
Als die Sandinistas bei der Wahl von 1990 die Macht verloren und 1992 der Bürgerkrieg in El Salvador mit einem Friedensvertrag endete, verschwand Zentralamerika mehr und mehr aus den Medien. Ralf weitete sein Berichtsgebiet aus und schrieb zuletzt über alles, was zwischen Mexiko und Kolumbien liegt. 1996 kehrte er nach Wien zurück.
Lateinamerika aber blieb er treu. Er reiste regelmässig dorthin. Sein letzter längerer Text in der WOZ erschien am 9. März (siehe WOZ Nr. 10/23). Es war ein Interview mit Dora María Téllez, einer prominenten Sandinistin der ersten Stunde, die gerade von Präsident Daniel Ortega ausgebürgert und des Landes verwiesen worden war. Ralf war einer der Ersten, die erkannt hatten, dass der einstige Revolutionsheld Ortega zu dem Autokraten wurde, der er heute ist. Von Wien aus, wo er mit seiner kolumbianischen Frau und seinen beiden Kindern lebte, schrieb er mehr und mehr auch über Österreich und Ungarn. Korrupte und autoritäre Politiker gab und gibt es auch dort – Haider, Kurz, Orbán …
Ralf war ein sehr bedächtiger Mensch. Er machte beim Reden oft so lange Pausen, dass man ihm beim Denken zusehen konnte. Er war auch ein bisschen schrullig. Als er einmal für ein paar Tage bei uns in San Salvador abstieg, begrüsste er meine Frau im leicht näselnden Wiener Tonfall mit einem «Küss die Hand». Und man wusste, wie so oft bei ihm, nicht, ob das nun ernst gemeint war oder ironisch. Wer ihn einmal als Gast im Haus hatte, der wusste immerhin: Er konnte kochen.
Am 21. Mai ging Ralf morgens mit dem Hund seiner Mutter im Traisental westlich von Wien spazieren. Offenbar sprang der Hund in den Fluss und kam dort in Probleme. Ralf wollte ihn retten. Er zog sich aus und sprang hinterher. Wahrscheinlich stiess er dabei mit dem Kopf gegen einen Felsen, verlor das Bewusstsein und ertrank. Seine Leiche wurde ein paar Hundert Meter flussabwärts gefunden. Er wollte am Tag darauf zu einer Recherchereise nach Kolumbien aufbrechen.
Eine von Ralf Leonhard verfasste Sachbuchkritik finden Sie auf Seite 25 («Lennon statt Lenin»).