Lateinamerikasolidarität: Vom langen Marsch in die Regierung
Am Anfang war Solidarität mit El Salvador. 35 Jahre später ist Beat Schmid Angestellter im Präsidialamt, Anita Escher Botschafterin des zentralamerikanischen Landes. Über eine andere Art der Entwicklungszusammenarbeit aus der Schweiz.
Niemand hat sich je in einer Solidaritätsgruppe für Zentralamerika mit der Hoffnung engagiert, damit irgendwann Karriere zu machen. Auch Anita Escher und Beat Schmid nicht. Beide waren in den achtziger Jahren in solchen Gruppen in der Schweiz. Hätte man ihnen damals prophezeit, was sie heute tun, sie hätten einen für verrückt erklärt.
Schmid war persönlicher Berater und Assistent des wichtigsten Präsidentschaftssekretärs der Linksregierung El Salvadors, eines Amts, das direkt dem Präsidenten zugeordnet und so etwas wie sein verlängerter Arm in die Ministerien ist. Seit dem Tod seines Chefs Ende August vergangenen Jahres arbeitet Schmid in einer dem Vizepräsidenten zugeordneten Gruppe, die – kurz gesagt – dafür zuständig ist, dass einmal beschlossene Regierungspolitik draussen im Land auch umgesetzt wird. Escher ist Botschafterin von El Salvador in Stockholm und ausser für Schweden auch für sieben weitere Länder zuständig.
Beide stehen nicht mehr ausserhalb, wie das Mitglieder solidarischer Organisationen tun – sei es als HelferInnen mit Finanzierung aus reichen Ländern, sei es als europäisches Sprachrohr politischer Organisationen von anderswo. Sie sind Teil dessen geworden, was einmal Objekt ihrer Solidarität gewesen ist.
Ein Angebot und schlaflose Nächte
Eine Schweizerin als Botschafterin von El Salvador? Das geht, weil die Mutter Salvadorianerin war: Anita Escher hat seit Geburt beide Staatsbürgerschaften. Mit drei Jahren reiste sie zum ersten Mal nach El Salvador, auf Familienbesuch mit der Mutter. Gross geworden aber ist sie im Aargau. «Ich bin frei aufgewachsen», sagt sie. «Ich war als Kind mit dem Fahrrad auf der Strasse und bin zu Fuss zur Schule gegangen.» Beides wäre in El Salvador nicht möglich gewesen – zu gefährlich.
Sie hat Romanistik und Deutsch studiert in Zürich, Aachen und Paris. Sie war immer politisch engagiert: Antiatomkraftbewegung, Feminismus, antiautoritäre Erziehung und natürlich Solidarität mit El Salvador. Ihre Abschlussarbeit schrieb sie über Alphabetisierung. «Paulo Freire und Bildung als Befreiung, das hat mich begeistert.» Sie hat in Nicaragua in Flüchtlingslagern mit SalvadorianerInnen gearbeitet, verbrachte dann 1988 ein ganzes Jahr in El Salvador. Es war das Jahr, in dem Jürg Weis, Sekretär des Zürcher Zentralamerika-Sekretariats, dort ermordet wurde, «ein grosser Schock, wir kannten uns». Der internationalen Kommission, die den Mord durch die Armee aufklären sollte, hat sie als Übersetzerin geholfen.
Zurück in der Schweiz arbeitete sie – inzwischen alleinerziehende Mutter – beim Schweizerischen Arbeiterhilfswerk (SAH), war von 1992 bis 2001 dessen Länderkoordinatorin in El Salvador, kehrte zurück in die Schweiz, arbeitete parallel noch bei Medico International. Bis 2009. Da hatte in El Salvador die ehemalige Guerilla der FMLN – Frente Farabundo Martí para la Liberación Nacional – zum ersten Mal die Präsidentschaft gewonnen; Hugo Martínez, ein alter Bekannter, wurde Aussenminister. Der bot ihr den Posten als Botschafterin in Berlin an. «Sie suchten Leute aus ihrem Umfeld, die die Länder kannten, in die sie entsandt werden sollten, und die die Landessprache sprachen.»
Das Angebot bereitete ihr schlaflose Nächte. «Ich hatte ja keine Ahnung vom Protokoll, ich musste lernen, lernen, lernen.» Dass sie seit drei Jahren ihr Land in Stockholm vertritt, ist von El Salvador aus gesehen eine Aufwertung. Schweden hat in den achtziger Jahren Tausende SalvadorianerInnen aufgenommen, Kriegsflüchtlinge genauso wie ehemalige politische Gefangene. Sie sind noch immer dort und wollen von der Botschaft betreut werden.
Beat Schmid könnte diesen Job nicht machen: Er hat ausschliesslich den Schweizer Pass. Seine Beziehung zu Zentralamerika begann mit der Kriegsdienstverweigerung, für die man damals ins Gefängnis ging. Sieben Monate bekam er aufgebrummt. «Bevor ich in den Knast musste, wollte ich noch etwas Sinnvolles tun», sagt er. Er ging nach Nicaragua. Arbeitsbrigaden für die Kaffeeernte oder auf dem Bau gab es damals viele. Er arbeitete in einer landwirtschaftlichen Kooperative nahe der Grenze zu Honduras, ein damals unruhiges Gebiet. Immer wieder gab es Überfälle der rechten antisandinistischen Contra, die ihre Kriegslager auf der anderen Seite der Grenze hatte. Während er später in der Schweiz im Gefängnis sass, wurde die Nachbarkooperative überfallen, sechs Menschen wurden getötet. «Und ich fragte mich: Was tu ich hier?»
Als er wieder in Freiheit war, schloss er sich dem Zentralamerika-Komitee in Zürich an. Damals gab es gut 25 solche Gruppen in der Schweiz. «Ich habe gejobbt, um das Nötigste zum Überleben zu haben. Der Rest war Solidaritätsarbeit.» 1986 ging er wieder nach Nicaragua, wollte ein paar Jahre bleiben und dann die Erfahrungen für die Solidaritätsarbeit in der Schweiz nutzen. «Das war eine Spielwiese mit allen Widersprüchen», sagt er heute. «Wir kamen bedingungslos solidarisch und konnten dann sehen, wie sich eine neue Elite herausbildete und dass es auch unter den Sandinisten Korruption gab.»
Der Tod von Jürg Weis änderte seine Pläne. «Wir waren sehr gut befreundet.» Schmid wollte nun von Nicaragua nach El Salvador. «Ich dachte: Wenn einer fällt, stehen zehn andere auf, und ich bin einer dieser zehn.» Er wollte zur Guerilla, mit der Waffe in der Hand kämpfen. Er sollte auch eine militärische Ausbildung bekommen. Aber dann schickte ihn die FMLN nach Bonn, in die diplomatische Vertretung der Guerilla. Die grösste Offensive der Guerilla fand im November 1989 statt, als Schmid in Bonn war. Kaum jemand interessierte sich in jenen Tagen dafür, was in El Salvador geschah, weil gleichzeitig in Berlin die Mauer fiel. Heute weiss er, dass er damals am besseren Platz war, für ihn und für die FMLN. «Als Guerillero hätte ich eher keine gute Figur gemacht. Ich war in Bonn viel nützlicher.»
Schmid ging erst nach dem Friedensvertrag von Anfang 1992 dauerhaft nach El Salvador. Er half bei der Wiedereingliederung der ehemaligen GuerillakämpferInnen in die Zivilgesellschaft, bereitete die erste freie Wahl mit vor und arbeitete danach in FMLN-Organisationen zur Aufklärung über Bürgerrechte mit. Einer seiner Chefs war damals Hato Hasbún, auch er aus dem diplomatischen Dienst der FMLN und einer der brillantesten Köpfe der neuen Partei. Nebenher studierte Schmid an einer salvadorianischen Universität Wirtschaftswissenschaften.
Nach zehn Jahren Parteiarbeit brauchte er ein wenig Abstand. Nach einem verheerenden Wirbelsturm 1998 arbeitete er beim Wiederaufbau für die deutsche Heinrich-Böll-Stiftung, nach einer Serie von Erdbeben Anfang 2001 für das Schweizerische Rote Kreuz. 2004 ging er für die NGO Groupe volontaires outre-mer nach Uruguay und wurde dann ein paar Monate nach Bolivien ausgeliehen. Die Linke hatte mit dem Indigenen Evo Morales gerade die Präsidentschaftswahl gewonnen, Schmid half bei der Erarbeitung eines Programms gegen Unterernährung. «Wir haben da 150 Millionen Dollar verplant, und es wurde zum Teil sogar umgesetzt.» Seine erste Erfahrung mit Arbeit für eine Regierung.
Es folgten sieben Jahre als Büroleiter von Oxfam in Havanna. Zuletzt hat er dort für die kleine Schweizer NGO Medicuba ein Büro aufgebaut. Dann wollte Hato Hasbún, dass er zurückkommt nach El Salvador. Der war in der zweiten FMLN-Regierung als Präsidialsekretär einer der engsten Berater des Präsidenten, Schmid wurde sein persönlicher Assistent.
Das Problem der Augenhöhe
«Die Arbeit in der Regierung ist spannend, widersprüchlich, schwierig», sagt Schmid. Die FMLN hatte nie eine parlamentarische Mehrheit, Hasbún musste an allen möglichen Fronten Kompromisse aushandeln. «Man ist in den Fängen der Bürokratie und in viel mehr Zwänge eingebunden als in einer NGO.» Aber es lohne sich. «In einer NGO macht man kleine Projekte und hofft, dass sich Teile davon irgendwann in nationaler Politik niederschlagen», sagt er. «In der Regierung kommt man vielleicht nur sehr langsam voran, aber wenn man etwas bewegt, bewegt sich etwas sehr Schweres.»
Anita Escher kämpft ebenfalls mit der Bürokratie. «Zwischen El Salvador und Stockholm liegen acht Stunden Zeitunterschied», sagt sie. «Da wird notgedrungen vieles schriftlich verhandelt.» Der Schriftwechsel mit salvadorianischen Behörden aber ist ein Erbe der spanischen Kolonialkultur: viel Formalismus mit Sätzen, die über zwei oder drei Seiten mäandern, bis endlich ein erlösender Punkt kommt. «Das ist reformbedürftig», sagt Escher. Die linke Regierung aber hat auf diese verschlossenen und letztlich nur AnwältInnen zugänglichen bürokratischen Abläufe noch keine politische Antwort gefunden. Viel lieber geht Escher hinaus aufs Land, besucht die Vereinigungen ihrer Landsleute. Da kann sie zumindest versuchen, nicht nur Amtsperson zu sein, sondern Gleiche unter Gleichen. «Wenn ich bei den Menschen bin, dann bin ich bei mir selbst.»
Auch Schmid legt Wert auf Augenhöhe. «Bei all meinen Jobs war ich nationaler Angestellter», sagt er. «Ich wurde gleich bezahlt wie meine Kollegen aus den jeweiligen Ländern.» Manchmal war das eher prekär, manchmal auch ganz ordentlich. «Zum Sparen blieb nie etwas übrig.» Das ist untypisch. In arme Länder entsandte EntwicklungshelferInnen verdienen in der Regel ein Vielfaches ihrer nationalen KollegInnen. Das schafft Distanz. «Mein einziges Privileg ist, dass ich nicht der Kleiderordnung unterworfen bin», sagt Schmid. «Ich bleibe bei Jeans und Hemd.» Da ist er noch immer der alternative Europäer. «Aber Salvadorianer sind da sehr offen; sie wollen wissen, wie ich die Dinge sehe.» Er mag manchmal ein bisschen anders sein als seine Kollegen, aber er ist doch einer von ihnen. «Wir sind alle Teil desselben politischen Projekts», sagt er.
Escher wünscht sich mehr Gleichheit in der Botschaft. Sie will nicht die Chefin sein, die alles anordnet. «Ich gehe davon aus, dass die Mitarbeiter auch von sich aus Eigenverantwortung übernehmen», sagt sie. Das ist in El Salvador nicht üblich. Die Betriebs- und Behördenkultur dort ist – noch eine Erbschaft der Kolonialzeit – bis heute hierarchisch-autoritär. Sie selbst ist in eine ganz andere Schule gegangen. «In diesem Punkt bleibe ich eine antiautoritäre Schweizerin.»