Machtmissbrauch: «Das Problem geht über die Polizei hinaus»
Besonders junge Männer aus den Banlieues sind von Polizeigewalt betroffen. Der Soziologe Jérémie Gauthier erklärt, woher die Tendenz zu überproportionaler Aggression und zu Rassismus rührt.
WOZ: Jérémie Gauthier, der Tod eines Siebzehnjährigen bei einer Verkehrskontrolle ist eine Tragödie. Ein Einzelfall ist er in Frankreich aber nicht. Warum hat gerade dieser jetzt Aufstände entfacht?
Jérémie Gauthier: Der Vorfall wurde vollständig gefilmt und die Aufnahme sofort über Social Media verbreitet. Er passierte in einem Kontext starker Spannungen zwischen Polizist:innen und Jugendlichen in den Banlieues. Immer wieder kommen bei Polizeikontrollen Personen, meist junge Männer mit Migrationshintergrund, ums Leben. Allein 2022 starben dreizehn Personen bei Verkehrskontrollen.
Debattiert wird in diesem Zusammenhang vor allem über ein umstrittenes Gesetz aus dem Jahr 2017.
Diese von den Polizeigewerkschaften geforderte Gesetzesänderung kann als eine Ursache gesehen werden. Das Gesetz erlaubt es Polizist:innen, auf Insassen eines Fahrzeugs zu schiessen, wenn sie der Ansicht sind, dass diese eine Gefahr für sie oder andere Personen darstellen. Nun fordern manche Politiker:innen die Abschaffung des Gesetzes.
Warum wurde es überhaupt eingeführt?
2016 wurde ein Polizistenpaar nahe Paris zu Hause von einem Dschihadisten ermordet. Wenige Monate später wurden zudem vier Polizist:innen verletzt, als Molotowcocktails auf ihre Fahrzeuge geworfen wurden. Diese Vorfälle lösten grosse Proteste der Polizei und eine Radikalisierung ihrer Gewerkschaften aus.

Abgesehen von Verkehrskontrollen wird auch kritisiert, dass Einsätze der französischen Polizei häufiger tödlich enden als im europäischen Vergleich.
Die Zahl der Personen, die bei Polizeieinsätzen getötet werden, ist in den letzten Jahren drastisch gestiegen. Bis 2019 waren es etwa zwanzig Personen pro Jahr, seitdem sind es zwischen vierzig und fünfzig. Die Rede ist hier von allen Fällen, unabhängig davon, ob die Gewaltanwendung verhältnismässig war oder nicht. Betroffen sind vor allem Personen mit Migrationshintergrund, vorwiegend junge Männer aus den Banlieues.
Hat Frankreichs Polizei ein Rassismusproblem?
Ja, das dokumentieren Soziolog:innen seit Jahrzehnten. Es gibt Vorurteile – Kontrollen treffen junge Männer mit Migrationsgeschichte überproportional oft. Die Verantwortung für diesen Rassismus tragen nicht nur die Polizist:innen im Einsatz, sondern auch ihre Führungskräfte und jene, die die Sicherheitspolitik gestalten. Polizei und Politik leugnen das Problem und weigern sich, es anzugehen.
Welche Rolle übernimmt die Polizei in der französischen Gesellschaft?
Zuallererst ist sie auf Verbrechensbekämpfung ausgerichtet. In den Banlieues wurde die Sicherheitspolitik gegenüber der Sozialpolitik priorisiert. Die Jugendlichen dort werden nicht als Bürger:innen gesehen, die man verstehen und schützen sollte. Dabei sind die Polizist:innen jene Vertreter:innen des Staates, mit denen die Jugendlichen am meisten zu tun haben. Denn das Angebot an Bildungs- und Gesundheitsleistungen sowie an Sozialarbeit geht in diesen Vierteln vielerorts zurück.
Ist diese Rolle von der Politik gewollt?
In Frankreich liegt der Fokus seit 2002 auf Kontrolle und Repression: Damals hat Nicolas Sarkozy als Innenminister die «police de proximité» abgeschafft, die auf einen engen Austausch mit der Bevölkerung setzte. Alle Regierungen, ob rechts oder links, haben seither diese repressive Tendenz verstärkt, unter anderem durch eine zusätzliche Bewaffnung der Polizei. Seit den 2000er Jahren kommen in sogenannten Brennpunktvierteln oftmals die umstrittenen Hartgummigeschosse zum Einsatz – seit den Gelbwestenprotesten 2018 vermehrt auch bei Demonstrationen. Zudem wird von der Polizei oftmals verlangt, auch soziale Konflikte zu lösen. Dafür gibt es aber normalerweise andere Akteur:innen in den Banlieues, etwa gemeinnützige Vereine, und in der Arbeitswelt Gewerkschaften. Diese wurden hingegen marginalisiert. Die Polizist:innen sagen selber, dass sie oft an die vorderste Front geschickt würden, in Konflikte hinein, die ihre Möglichkeiten überstiegen.
Auch die Ausbildung wird häufig kritisiert.
Diese dauert aktuell nur zwölf Monate. Das ist halb so lange wie in Deutschland. Die Polizist:innen lernen zuallererst Interventionstechniken und die Strafprozessordnung und machen Schiessübungen. Vernachlässigt wird der Umgang mit den Bürger:innen. Hinzu kommt: Das Innenministerium will seit einigen Jahren besonders wegen der Terroranschläge, der verschiedenen Protestbewegungen und im Hinblick auf die Olympischen Spiele, die nächsten Sommer in Paris stattfinden, möglichst viele Beamt:innen rekrutieren. Laut Ausbilder:innen in der Polizei ist dabei das Niveau der Rekrut:innen stark zurückgegangen.
Die zwei grössten Polizeigewerkschaften haben vor wenigen Tagen eine Pressemitteilung veröffentlicht, in der sie die Jugendlichen der Banlieues als «wilde Horden» und als «Schädlinge» bezeichnen.
Diese Wortwahl aus dem Register der extremen Rechten zeigt die Radikalisierung der zwei Gewerkschaften. Es wird darauf abgezielt, Brutalität gegenüber den Jugendlichen zu rechtfertigen. Die Haltung der Gewerkschaften reflektiert aber nicht unbedingt die ideologische Orientierung ihrer Mitglieder. Die Polizei ist zwar die am stärksten gewerkschaftlich organisierte Berufsgruppe des Landes, viele sind aber schlicht aus Karrieregründen Mitglied.
Wie beurteilen Sie die Reaktionen der Regierung auf die Ereignisse der vergangenen Tage?
Sie sind anders als bei den Aufständen von 2005, die durch den Tod zweier Jugendlicher ausgelöst wurden, die vor einer Polizeikontrolle flohen. Sarkozy hatte damals als Innenminister die Spannungen mitgeschürt. Diesmal haben der Präsident, die Premierministerin und der Innenminister schnell reagiert, den Familien ihr Beileid ausgesprochen und ein Tötungsdelikt durch die Polizei auch nicht ausgeschlossen. Auch die Staatsanwaltschaft hat rasch reagiert, der Schütze sitzt in Untersuchungshaft. Aber mit den Eskalationen hat sich auch der Ton verändert. Es wird zur Wiederherstellung der Ordnung aufgerufen und zu Strafmassnahmen gegen die Eltern. Der Polizei wird das Vertrauen ausgesprochen. Entscheidend wird sein, ob sich die Regierung in den kommenden Wochen oder Monaten für eine tiefgreifende Reform des Polizeiapparats ausspricht. Ich halte das aber für unwahrscheinlich.
Wie müsste eine solche Reform aussehen?
Rassismus, Diskriminierung und Gewalttaten innerhalb der Polizei dürfen nicht mehr geleugnet werden. Das Problem geht aber über die Polizei hinaus, es geht auch um soziale Ungleichheiten und solche aufgrund der Herkunft.
Der Soziologe Jérémie Gauthier befasst sich seit Jahren mit der Rolle der französischen Polizei in der Gesellschaft. Er forscht am Laboratoire interdisciplinaire en études culturelles der Universität Strassburg und am Zentrum Marc Bloch in Berlin.