Visions du Réel: Warten auf des Menschen Wolf

Nr. 17 –

Die Väter, die es besser wissen, und die Kinder, die trotzdem nicht aufgeben: Alles hängt zusammen, und alles wiederholt sich. Das zeigt ein wilder Reigen am Filmfestival in Nyon.

Filmstill aus «The Landscape and the Fury»: zurückgelassene Passbilder im Wald
Zurückgelassene Passbilder im Wald: In «The Landscape and the Fury» beschäftigt sich Dokumentarfilmerin Nicole Vögele mit der Überschneidung von Fluchterfahrung und Kriegserinnerung.  Still: Beauvoir Films

Auch wenn er nicht von Anfang an da war, sage die Erfindung des Kamins mehr über den Menschen aus als jene des Feuers: «Wir wollen die Wärme unserer Errungenschaften, aber nicht den Rauch.» Beat Oswald, Lena Hatebur und Samuel Weniger stossen in «Tamina. Wann war es immer so?», ihrem Filmessay über das angespannte Verhältnis zwischen Mensch und Natur, immer wieder auf solch schöne Aphorismen. Auch auf jenen, wonach die Falle, mit der der Mensch seine Beute erstmals aus sicherer Distanz erlegen konnte, «der Anfang vom debilen Erfolg der Verallgemeinerung» war. Wenn alles gratis zu haben ist, wieso sollte man dann aufhören zu nehmen?

Das dachte sich der Wolf wahrscheinlich nicht, der einen Tierkadaver zu viel auf dem Vättiser Schulhof liegen liess – was die eine oder andere Grundsatzdebatte mehr nach sich zog, ob so viel Wildheit noch zur Schweiz passt. Dabei ist der Wolf seit je bloss ein Platzhalter für das Eindringen des Fremden, «Barbarischen» ins eigene Territorium. Dazu passt dann auch wieder die berühmte Aussage, wonach «der Mensch des Menschen Wolf» sei, bei der die zweite Hälfte des lateinischen Originalzitats gerne ignoriert wird: «wenn er diesen noch nicht kennt».

Nicht nur im gemütlichen Taminatal, sondern auch in den kargen französischen Alpen geht der wilde Eindringling um und bedroht Mensch, Sicherheitsgefühl, Wirtschaftlichkeit und auch ein paar Tiere. «Un pasteur» von Louis Hanquet zeigt in majestätischer Zurückhaltung den Alltag wie auch die von einer Wärmebildkamera eingefangenen, allnächtlichen Albträume des jungen Schäfers Félix hoch in den Hautes-Alpes. Wortkarg und auch sonst eher genügsam, scheint er sich damit abgefunden zu haben, trotz aller sanften Mühe ab und zu ein paar Schäfchen seiner Herde an ein schlau agierendes Wolfsrudel zu verlieren. Seinem Vater widerspricht er dann aber doch nicht, als dieser die dezidiert «weiblich» verstandene Unschuld der Lämmer hervorhebt, die der Wolf in seiner systematischen Grausamkeit gefressen hat.

Wo das wahre Europa liegt

Es ist ein Bild, das sich durch die Erzählung der von Männern gemachten und zerstörten Welt zieht: das (weibliche) Opfer, von der (männlichen) Gemeinschaft nicht gut genug beschützt, vom (wilden, barbarischen) Fremden zerstört. In «The Song of Others» spürt Vadim Jendreyko dem nach, was das bedrohte Europa verbindet, fragt sich dabei, wo die Geschichten der Frauen geblieben sein könnten, und lobt die Diversität. Einer seiner fast ausschliesslich männlichen Gesprächspartner:innen vergleicht die ausgebombte Bibliothek von Sarajevo mit einer jungen Frau, «die man liebte und die dann starb».

Die zyklisch auftretenden Katastrophen des Westens macht Jendreyko in verschiedenen Sphären, auf unterschiedlichsten Ebenen fest: auf den immer noch mit Sprengkörpern verseuchten Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs, im letzten Urwald Europas zwischen Polen und Belarus, im Zwischenraum von Politik und Markt, deren strikte Trennung im antiken Griechenland noch Voraussetzung für die Demokratie war, sowie an den Aussengrenzen, wo man sich gegen den erneuten Einfall der Barbaren wappnen zu müssen glaubt.

Vielleicht ist das wahre Europa der Gegenwart ja tatsächlich jenes seiner Umrisse. Da, wo Frontex und andere Grenzpatrouillen die Stacheldrahtzäune abschreiten, während die lokale Bevölkerung die Wälder von Minen aus dem letzten Krieg säubert, geflüchteten Familien in umfunktionierten Schulhäusern Essen und Kleidung bereitstellt oder mit Motorrädern neue Linien in die Landschaft zeichnet, um nicht vor Langeweile zu sterben. «The Landscape and the Fury» von Nicole Vögele erklärt nichts, sondern überlässt die gerade in ihrer Mehrdeutigkeit aussagekräftigen Bilder der Wirkung von Zeit und der eigenen Reflexions- und Empathiearbeit. Selten glückt es einem Schweizer Film, mit so wenig so viel zu sagen (vgl. «Was Worte nicht erzählen können»).

Das gilt auch für «Preparations for a Miracle» von Tobias Nölle (siehe WOZ Nr. 15/24), weil der zeitreisende Androide hier gar nicht mit Menschen sprechen darf – eine Regel, die wahrscheinlich nur traurige Nostalgie für eine Zeit ist, die noch eine Zukunft hatte. Als es noch Menschen gab, die sich an Bäume ketteten, um diese vor der Abholzung zu retten. Als es noch Wälder gab, die wilde Pflanzen und Tiere beherbergten und nicht hauptsächlich der Produktion von Baumaterial dienten.

Wald ist doch kein Acker

In ihrem Film «Once Upon a Time in a Forest» dokumentiert die finnische Regisseurin Virpi Suutari den Kampf einer Gruppe junger Aktivist:innen gegen die Abholzung von allem, was bei drei noch immer ein Baum ist. Mit grösstem Mitgefühl zeigt sie dabei auch, welche Anstrengungen diese immer wieder aufbringen müssen, um angesichts der allgemeinen Gleichgültigkeit nicht den letzten Rest ihrer Hoffnung zu verlieren.

Wenn die 22-jährige Ida in einem Zeltgespräch den typisch bevormundenden Gesichtsausdruck von Machtpersonen nachmacht, mit denen sie im Kampf gegen die Zerstörung der finnischen Naturreservate im Namen der Wirtschaftlichkeit zu tun hat, ist das noch ein wenig lustig. Wenn dann aber ihr eigener Grossvater bei einer Diskussion das Argument anführt, dass ein Wald funktionell das Gleiche sei wie Ackerland und ökonomisch produktiv sein müsse, statt «unnatürlich» und auf Staatskosten zu verrotten, kann Ida nur noch traurig den Kopf schütteln. Sie ahnt, dass dies der Position der Mehrheit entspricht, die noch lange so bleiben wird. Dann macht sie weiter.