Flüchtlingspolitik: «Auch hinter den Mauern gibts keine Sicherheit»
Das Sterben im Mittelmeer löst kaum mehr Empörung aus. Wie aber verändert die Politik der Abschottung die europäische Gesellschaft? Die Autoren Volker Heins und Frank Wolff warnen vor einem «Faschismus der Herzen».
WOZ: Frank Wolff, Volker Heins, kürzlich starben bei einem Bootsunglück in der Ägäis über 600 Menschen. Dass die europäische Aussengrenze für Geflüchtete tödlich ist, ist seit Jahren evident. In Ihrem Buch «Hinter Mauern» argumentieren Sie aber, die Abschottung habe auch nach innen fatale Folgen. Welche?
Frank Wolff: Wenn wir davon ausgehen, dass Grenzen Teil unserer Gesellschaften sind und nicht weit weg am Rand, haben die Geschehnisse dort einen direkten Einfluss darauf, welche Tendenzen wir tolerieren und welche nicht. Aktuell sehen wir eine gesellschaftliche Verrohung, die an den Grenzen ihren Ausdruck findet – und dann in die Zentren zurückwirkt. Durch diese Wechselwirkung entwickeln wir auch im Innern eine Toleranz gegenüber Menschenrechtsbrüchen.
Volker Heins: Als 2013 vor Lampedusa ein Schiff sank, kam noch der Papst. Heute sagt Ursula von der Leyen, Griechenland sei der Schutzschild Europas. Erstaunlich finde ich, dass nicht mal die Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung kommt. Obwohl es einen Anfangsverdacht auf unterlassene Hilfeleistung oder sogar fahrlässige Tötung gibt, wird der Fall strafrechtlich folgenlos verpuffen. Und er ist ja nur einer von vielen.
Die Zustände werden immer schlimmer, gleichzeitig scheint das Sterben an den Grenzen kaum noch jemanden zu interessieren. Wie sind wir an diesen Punkt gekommen?
Heins: Im Mainstreamdiskurs wird seit Jahren vermittelt, wir mögen doch bitteschön die Bilder aushalten, nicht so überempfindlich reagieren – ein Versuch, die Bevölkerung zu konditionieren, damit sie das hinnimmt. Ertrinkende retten zu wollen, ist heute ja schon links, dabei ist es internationales Recht. Die Leute sind nicht von vornherein rassistisch, sie werden auch dazu gemacht. Eine «natürliche» Abwehrhaltung gibt es nicht. In den Mittelmeerländern existiert sogar eine uralte Tradition der Seenotrettung. Es standen auch schon tunesische Fischer vor Gericht, die Migrant:innen gerettet hatten.
Wolff: Unser Buch beginnt mit dem Wort «schleichend» – so verläuft die Verrohung des Diskurses. Stattgefunden hat eine grosse Verschiebung: Migrant:innen werden schon länger als «Gefahr» identifiziert. Heute sieht man die Gefahr in der fehlenden Kontrolle über Migration. Zentrale staatliche Funktionen wie die Aufnahmepolitik werden an intransparente Institutionen an den Grenzen ausgelagert. Das ist kein Fehler, das System ist intentional so geschaffen. Wir aber sehen dessen Funktionsweise immer bloss bei den fürchterlichen Ereignissen.
Sie schreiben, die Architekt:innen des Grenzregimes seien auf Gesellschaften angewiesen, die damit leben könnten, dass der eigene Frieden mit Unfrieden für andere einhergehe. Welche rhetorischen Figuren werden zur Rechtfertigung der Abschottung bemüht?
Wolff: Kürzlich sagte die deutsche Innenministerin, der «Asylkompromiss» sei nötig, um Schengen zu schützen, was allerdings selbst die EU-Kommission verneint. Die von uns gelebten europäischen Freiheiten bedürfen angeblich befestigter Aussengrenzen, dabei gibt es da gar keinen Bezug. Trotzdem wird die Angst kreiert, Europa gehe kaputt, wenn wir die Grenzen nicht sichern.
Heins: Ursprünglich war die europäische Idee ein Friedensideal, das mehr bedeutete als die Abwesenheit von Krieg. Man wollte Frieden und Wohlstand nicht durch Mauern sichern, sondern durch durchlässigere Grenzen. Eine geniale Idee! Doch im Verhältnis zu den ehemaligen Kolonien und den Nachbarregionen ist man dann zum alten Konfliktlösungsmodus zurückgekehrt: Abschottung durch Mauern und Militarisierung. Diese Ambivalenz des Gründungsdiskurses schreibt sich bis heute fort.
Die Migrationsexperten
Der Politikwissenschaftler Volker Heins (66) ist Permanent Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen.
Frank Wolff (45) ist Privatdozent am Historischen Seminar und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück.
Im Mai ist im Suhrkamp-Verlag ihr gemeinsames Buch, «Hinter Mauern. Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft», erschienen.
Die EU hat 2012 den Friedensnobelpreis erhalten. Was ist sie für ein Projekt, wenn man sie von ihren Grenzen her denkt?
Wolff: Im Bemühen, nach dem Zweiten Weltkrieg aufeinander zuzugehen, hat man wohl gar nicht so viel über die Aussengrenze nachgedacht. Darum reproduzierte man koloniale Denkmuster – eine Ursünde der europäischen Idee. Als sich ab den achtziger Jahren Schengen durchsetzte, entwickelte Europa eine seltsame Figur: Nach innen lebt man das revolutionär Neue, nach aussen formiert man sich wie ein klassischer Nationalstaat. Damit hat man auch dessen Probleme geschaffen, nun aber durch eine hohe biopolitische Erwartung aufgeladen. Diese Erwartung ist konditioniert durch unseren gesellschaftlichen Rassismus. Europa als gedachter weisser Kontinent ist also ein postkoloniales Projekt mit kolonialen Zügen in der Migrationspolitik.
Welche Rolle spielt der Rassismus bei der Frage, wem wir die Tür öffnen und wem eben nicht?
Heins: Man muss unterscheiden zwischen dem offenen Rassismus im Diskurs und der Mechanik des Asylregimes. Der Soziologe Steffen Mau hat von Sortiermaschinen gesprochen – und die sind natürlich nicht farbenblind. Das Grenzregime ist rassistisch, migrationswillige Personen werden nicht gleichbehandelt – nehmen wir Migrant:innen aus dem arabischen Raum oder Afghanistan 2015 und die Ukraineflüchtlinge.
Wolff: Man müsste viel mehr diskutieren, wie Rassismus in der europäischen Idee eingebettet ist, wie er sich ausdrückt und institutionalisiert. Auf dem europäischen Weg gab es immer wieder gute Entscheidungen; das Problem ist, dass wir stattdessen die schlechten reproduzieren.
Wenn Europa also gleichzeitig Friedensprojekt und rassistisch geprägt ist: Wer sind denn die Vordenker:innen der Abschottungspolitik? Es hätten sich ja auch andere Ideen durchsetzen können.
Wolff: Aktuell jene, die das Grenzregime gestalten: Polizeiapparate und Grenzagenturen, Strafverfolgungsbehörden, aber auch Gerichte. So hat sich etwa das normative Werturteil des Europäischen Gerichtshofs nach und nach dahin gehend verschoben, dass Asylbegehren abgelehnt werden können, wenn die Person zuvor «illegal» die Grenze übertreten hat. Wichtig ist auch die Presse, die Skandale produzieren will: Vokabeln wie «illegale Migranten» haben sich verselbstständigt. Als ob es die gäbe …
Heins: Es gibt in ganz Europa eine beängstigende Entwicklung nach rechts, in Polen oder Ungarn seit Jahren, aber auch in Italien. Und wenn Regierungen wie die deutsche einfach nachgeben wie jetzt bei der EU-Asylreform, ist das fatal.
Die europäischen Bevölkerungen beschreiben Sie als passiv, eingespannt und manipuliert von den Mächtigen. Wird damit nicht übersehen, dass der Rassismus vieler erst die Abschottungspolitiker:innen an die Macht bringt?
Heins: Vielleicht entsteht in unserem Buch der Eindruck, alles sei elitengesteuert. Wir wollen aber keineswegs sagen, die Bevölkerung sei passiv, sondern lediglich die Politik bestimmter Eliten stärker herausarbeiten. In Deutschland wird argumentiert, die Bevölkerung wolle halt sichere Grenzen. Aber «die Stimme des Volkes» ist ein rechter Mythos – und dagegen wollten wir anschreiben.
Wolff: Der Rassismus in der Bevölkerung ist sowohl von den offen rechten Akteur:innen als auch von den liberalen Mauerbauer:innen gewollt. Letztere argumentieren vom Stammtisch bis ins Parlament, es brauche einen verschärften Grenzschutz, um den Rechten keinen Raum zu geben.
Sie verwenden den Begriff «Faschismus der Herzen». Wie prägt dieser den Diskurs?
Heins: Er äussert sich in einer kollektiven Bitterkeit und Empathielosigkeit. Und das ist ein Problem: Faschismus der Herzen heisst, jemand ist nicht mehr für Appelle an eine elementare Mitmenschlichkeit empfänglich.
Wolff: Dadurch werden auch jene delegitimiert, die noch mitfühlen. Der Raum, sich humanitär zu engagieren, wird kleiner. Das bedeutet auch zu sagen: Was da draussen geschieht, muss schnell gelöst werden, ist aber nicht mein Thema. Man geht davon aus, Migration sei ein Problem, das man lösen könne, etwa mit Grenzen – dabei lässt sie sich nicht unterbinden. Verschärfungen rufen deshalb bloss nach immer neuen Verschärfungen.
Die neue EU-Asylreform sieht unter anderem Haftanstalten an den Grenzen vor. Wie ordnen Sie diese Entwicklung ein?
Wolff: Es wird etwas vorher Undenkbares normalisiert: Was ein Angriffspunkt war, an dem humanitäres Engagement und Kritik ansetzen konnten, wenn es etwa Griechenland übertrieb, ist jetzt Konsens, als Institution und Teil von Europa legitimiert. Wir schaffen damit auch neue Hüllen, Begriffe, in denen Unmenschlichkeit verpackt wird: Auffangzentren, Asylkompromiss. Dabei ist das kein Kompromiss, sondern die Erosion des Asylsystems.
Heins: Mir war immer unklar, wie man die extreme Rechte dadurch bekämpfen will, dass man ihre Forderungen erfüllt. Für die AfD muss die Einigung wie Weihnachten und Ostern zugleich sein. Hinzu kommt der Zynismus: Ein grüner Ministerpräsident sagte, man könne nicht von haftähnlichen Bedingungen sprechen, die Leute könnten ja zurück. Die dahinter liegende Botschaft an alle, die nach Europa wollen: Ihr seid zu arm, zu Schwarz und zu viele. Und wenn das jetzt ein Grüner sagt, ist das ein grosses Problem.
Wolff: Es ist eine menschenunwürdige Geste und ein fatales Zeichen, dass Europa dem Meloni-Italien und Orbán-Ungarn Recht gegeben hat.
Heins: Was die Asylreform mit den Gesellschaften macht, ist noch nicht vorherzusehen. Ob die Zahlen kurzfristig sinken, es wirklich weniger Tote gibt, ist völlig offen. Dafür steht zu befürchten, dass die Menschen jahrelang in den Lagern schmoren werden.
Wo beschädigt die Abschottungspolitik die Demokratie sonst noch?
Heins: Vor allem in den Ländern an den Grenzen können wir einen systematischen Abbau der Rechtsstaatlichkeit beobachten. Polen liegt im internationalen Ranking nur noch knapp vor den Vereinigten Arabischen Emiraten, Griechenland hinter Namibia. Der Verlust von Rechtsstaatlichkeit heisst nicht nur, dass Leute an der polnisch-belarusischen Grenze erfrieren, er zeigt sich etwa bei der Abschaffung des Abtreibungsrechts oder der Einschränkung der Versammlungsfreiheit. Vor den Mauern gibts keine Sicherheit – hinter ihnen allerdings auch nicht.
Wolff: Demokratie definiert sich darüber, wie mit Minderheiten umgegangen wird, und nicht darüber, wie sich die Mehrheit absichert. Die Grenzen sind Ausdruck immer weiter werdender Ränder, in denen die Gefährdung zunimmt, was wiederum zurückwirkt, weil Polizeiapparate aufgebaut, Gerichte geschwächt werden. In den USA unter Donald Trump wurden Methoden und Einheiten des Grenzschutzes auch gegen die Black-Lives-Matter-Bewegung eingesetzt.
Als Ausweg aus der Misere schlagen Sie eine Demokratisierung der Grenze vor. Wie müssen wir uns das vorstellen?
Heins: Als Erstes bräuchten wir eine Humanisierung. Alle, die sich einigermassen zur liberalen Demokratie bekennen, müssten doch die Forderung nach rechtsstaatlichen Verfahren zu Übergriffen, unterlassener Hilfeleistung und Tötungen an den Grenzen unterschreiben. Mit Demokratisierung meinen wir, dass alle, die von den Grenzen betroffen sind, nicht zuletzt die Migrant:innen selbst, bei ihrer Ausgestaltung Gehör finden müssten. Ein Beispiel: 2020 hat Deutschland ein Kontingent von Flüchtlingen aus dem Lager Moria aufgenommen und verteilt. Berlin war bereit, mehr Menschen aufzunehmen, durfte aber nicht. Auch in der Schweiz gibt es, wie ich höre, Kommunen, die eigenständig Geflüchtete aufnehmen möchten.