Hollywood: «Die meisten wollen das nicht länger hinnehmen»

Nr. 28 –

Die US-Journalistin Maureen Ryan rechnet in ihrem neuen Buch mit dem Bild des männlichen Künstlergenies ab und zeigt: Missbräuchliches Verhalten hat in Hollywood System.

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Der Vergewaltiger und der Bully: Das Verhalten von Harvey Weinstein (links) und Scott Rudin soll nicht länger institutionell gedeckt werden.  
 
Foto: Gregory Pace, Getty


WOZ: Maureen Ryan, Sie schreiben seit den 1990er Jahren als Journalistin über die TV-Branche. Wann fingen Sie an, das Fehlverhalten Einzelner nicht mehr als Ausnahme zu sehen, sondern darüber nachzudenken, dass womöglich im gesamten System einiges schiefläuft?

Maureen Ryan: Einschneidend war definitiv der Streik der Drehbuchautor:innen vor fünfzehn Jahren. Zwar war ich schon früher öfter schockiert gewesen über Vorfälle und Entwicklungen in der Branche. Aber damals raubte mir ein Blick auf die Zahlen die letzten Illusionen. Schon vorher gab es unter den Autor:innen in Hollywood bedauerlich wenig Frauen und People of Color, nicht zuletzt gemessen an ihrem Anteil an der US-Bevölkerung. Nach dem Streik sanken diese Zahlen aber noch. Das erschütterte mich, denn irgendwie war ich trotz allem immer davon ausgegangen, dass diese Branche im Kern daran interessiert ist, die Bedingungen gerade für benachteiligte Menschen zu verbessern. Doch es waren genau diese Menschen, die in der Krise als Erste links liegen gelassen wurden. Selbst in der nicht gerade für liberales Denken bekannten Finanzbranche, wo mein Mann tätig ist, waren die Statistiken weniger trostlos.

Mangelnde Chancengleichheit ist aber nur einer von vielen Faktoren, wenn wir von ­einer systemischen Schieflage sprechen, oder?

Keine Frage. Etwas anderes, was ich zu spät im grösseren Kontext gesehen habe, war die Darstellung von Frauen in Filmen und Serien, nicht zuletzt im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt, die bei genauem Hinsehen omnipräsent ist. Irgendwann begann ich zu hinterfragen, warum ich gewisse Bilder und Szenarien immer und immer wieder sah. Warum es immer, wenn einer Frauenfigur etwas Schlimmes passieren musste, als Optionen nur sexuelle Übergriffe und Vergewaltigung zu geben schien. Das sagt ja auch etwas über die Menschen, die diese Geschichten erzählen, und über die Zusammenhänge, in denen solche Produktionen entstehen. Aber das Hauptproblem ist noch ein anderes.

Nämlich?

Wir sind in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der es als eine Art Naturgesetz gilt, dass die besonders kreativen Menschen in der Regel irgendwelche psychischen Schwierigkeiten oder Persönlichkeitsstörungen haben. Das männliche Künstlergenie, das ein aufbrausendes Temperament und zerstörerische Energie hat und das nur schöpferisch tätig sein kann, wenn es seine Probleme an anderen auslässt: Das ist ein Bild, das nicht zuletzt von der amerikanischen Unterhaltungsindustrie aufrechterhalten wurde. Auch ich hatte das komplett verinnerlicht und habe es lange viel zu wenig hinterfragt, wenn es in Branchenberichten hiess, jemand sei temperamentvoll oder kompliziert, ein Hitzkopf oder mit überschäumender Leidenschaft bei der Sache. Dass jemand wie der Produzent Scott Rudin, der cholerisch seine Mitarbeiter:innen anschrie, mit Gegenständen bewarf und einmal mit einem Monitor die Hand eines jungen Mannes zertrümmerte, vor allem ein Bully ist, haben wir viel zu lange ausgeblendet oder ignoriert.

Daran etwas zu ändern, ist nun ein Anliegen Ihres Buches «Burn It Down».

Mit #MeToo hat zum Glück ein Prozess des Nach- und Umdenkens eingesetzt. Vieles ist in Veränderung begriffen, nicht zuletzt der Irrglaube, dass Kreativität eines systematisch missbräuchlichen Verhaltens bedarf. Es geht nicht zuletzt um Arbeitsbedingungen: So wenig wie ich möchte, dass irgendwo Menschen in Sweatshops ausgebeutet werden, wenn sie mein Telefon zusammenbauen, so wenig will ich, dass Crewmitglieder sexistische und rassistische Tiraden über sich ergehen lassen müssen, damit ich meine Serien gucken kann.

Sind Sie denn optimistisch, dass die erwähnten Veränderungen nachhaltig sind? Sie bezeichnen ja Hollywood auch als «forgetting machine», weil man dort immer darauf setzt, dass morgen schon wieder vergessen ist, was heute Schlimmes passiert.

Das ist richtig. Das ist der gleiche Reflex, dem wir die Existenz der Oscars zu verdanken haben, wussten Sie das? Vor hundert Jahren hatte Hollywood den Ruf eines Sündenpfuhls, alle tranken zu viel, feierten exzessiv und hatten Affären. Also kamen die Bosse der grossen Studios zusammen und gründeten die Academy, die bis heute die Oscars verleiht: um einerseits Arbeitsproteste klein zu halten, vor allem aber, um der Branche ein besseres Image zu verpassen und mit Glamour von all den Skandalen abzulenken. Eine Variation davon ist es, Probleme einfach zu ignorieren in der Hoffnung, dass sie dann von alleine verschwinden. So handhabte das ja Warner Bros. gerade erst wieder beim Kinostart von «The Flash».

Ezra Miller, der Star dieser aufwendigen Comicverfilmung, ist in den letzten Jahren durch zahlreiche Vergehen von Belästigung bis Körperverletzung aufgefallen …

Genau. Die Pressestrategie für diesen Film war, dass es einfach keine gab. Es wurde so getan, als gäbe es das Problem gar nicht. Ich würde behaupten, dass in diesem Fall die Strategie nicht aufgegangen ist, aber es waren die alten Hollywoodreflexe, die sich hier wieder zeigten: einfach ignorieren.

In Ihrem Buch berichten Sie nicht nur über den bereits erwähnten Scott Rudin, sondern auch von den Zuständen hinter den Kulissen von «Saturday Night Live», «Lost» oder «The Muppets». Wie haben Sie entschieden, welche Geschichten Sie genauer unter die Lupe nehmen?

Die wichtigste Frage war bei jedem der mir bekannten Vorfälle, ob ich genug zu berichten habe. Gibt es genug Quellen, die mit mir zu sprechen bereit sind? Habe ich hinreichende Fakten, die über Hörensagen hinausgehen? Ich wollte von Ereignissen berichten, die tatsächlich ein Licht auf institutionalisierte und bis heute andauernde Strukturen werfen. Deswegen blicke ich zum Beispiel auch auf die Serie «Sleepy Hollow», die es seit sechs Jahren nicht mehr gibt und die nie die popkulturelle Relevanz etwa von «Lost» hatte. Aber was die Hauptdarstellerin Nicole Beharie dort erlebt hat, steht eben beispielhaft dafür, wie in dieser Branche mit Frauen und zumal Schwarzen Frauen umgegangen wird.

Einige Kritiker:innen haben Ihnen vorgeworfen, dass die Fälle im Buch unterschiedlich schwer wiegten, etwa wenn es um tatsächlich justiziable Vergehen geht. Aber dahinter steht eine Absicht Ihrerseits, oder?

Ich freue mich, dass Sie das fragen, denn tatsächlich stiessen mir einige der besagten Kritiken etwas auf. Da schwingt etwas mit, was mir in Hollywood immer wieder als Rechtfertigung oder Entschuldigung begegnet. Nämlich eine Attitüde à la «Na ja, immerhin war er kein Harvey Weinstein». Heisst das, dass nur die allerschlimmsten Vergehen Konsequenzen haben sollten? Und dass man alles, was kein schwerwiegendes kriminelles Verhalten ist, aushalten muss? Sollen wir ein toxisches Arbeitsklima tolerieren, nur weil niemand vergewaltigt wurde? Ich wollte ein vollständiges Bild der Strukturen in Hollywood und der daraus hervorgehenden missbräuchlichen Verhaltensmuster aufzeigen. Aber weder schere ich all diese Fälle über einen Kamm, noch behaupte ich, sie sollten alle die gleichen Konsequenzen haben.

Das letzte Drittel des Buches ist tatsächlich auch eine Art Handreichung zur Veränderung. Werden Sie damit von der Reporterin zur Aktivistin?

Keine Ahnung. Ich verstehe mich weiterhin als Kritikerin und Journalistin. Aber ich gebe gerne zu, dass ich auch eine Agenda habe: Ich will erreichen, dass diese Industrie, die so gerne vorgibt, gegen Rassismus und Sexismus zu sein, das auch hinter den eigenen Kulissen einlöst. Und dass sich die Erkenntnis durchsetzt, dass die Berühmtesten oder Mächtigsten nicht wichtiger sind als die anderen. Alle, die an einer Serie mitwirken, haben das Recht, fair und respektvoll behandelt zu werden.

Klingt wie eine Selbstverständlichkeit …

Ja, und an den Reaktionen auf mein Buch merke ich, dass die meisten Menschen nicht mehr hinnehmen wollen, dass in Hollywood eigene Regeln gelten. Nur weil jemand ein Star oder ein erfolgreicher Kreativer ist, heisst das nicht, dass man die Menschen, die für einen arbeiten, schlecht behandeln darf. Jeff Garlin, der Hauptdarsteller der Sitcom «Die Goldbergs», der aufgrund seines unangemessenen Verhaltens schliesslich gefeuert wurde, rechtfertigte sich beispielsweise immer wieder damit, dass das nun einmal Teil seines kreativen Prozesses sei. Aber auch das Set eines Hollywoodstudios ist in erster Linie einfach ein Arbeitsplatz – und da sollte man sich an gewisse Regeln halten. An jedem anderen Arbeitsplatz, egal ob Autowerkstatt oder Büro, würde doch auch niemand damit durchkommen, dass er sagt, seine cholerischen Überfälle und körperlichen Übergriffe seien nötig, um den Job zu erledigen.

Alles abfackeln?

Für Magazine wie «Vanity Fair» berichtet Maureen Ryan über die US-Filmindustrie. In ihrem Buch «Burn It Down» schreibt sie über Machtmissbrauch und toxische Arbeitsbedingungen hinter den Kulissen Hollywoods. Ein Kapitel ist der Fantasyserie «Sleepy Hollow» gewidmet, deren Schwarze Hauptdarstellerin Nicole Beharie nicht nur grundlegend anders als ihr weisser Kollege behandelt wurde, sondern regelrecht gemobbt und in den Medien mit erfundenen Berichten verunglimpft. Als Beharie nach drei Staffeln ausstieg, haftete ihr lange das Label an, «schwierig» zu sein, während Showrunner Mark Goffman direkt die nächsten Serien in Angriff nehmen konnte.

Maureen Ryan: «Burn It Down. Power, Complicity, and a Call for Change in Hollywood». Harper Collins. Boston 2023. 400 Seiten. 40 Franken (nur Englisch).