Krise im Niger: «Am stärksten leidet die Bevölkerung»

Nr. 32 –

Vor zwei Wochen hat das Militär im Niger die Macht übernommen. Der französische Sahelexperte Alain Antil über die Wahrscheinlichkeit eines Krieges in der Region, die Chancen für Russland und die Wut auf die ehemalige Kolonialmacht Frankreich.



WOZ: Herr Antil, Ende Juli haben Putschisten im Niger die Macht übernommen. Die westafrikanische Staatengemeinschaft Ecowas hat mit einem Militäreinsatz gedroht, sollte dieser Coup d’État nicht rückgängig gemacht werden. Nun berät sie in Nigeria über das weitere Vorgehen. Wie gross ist die Gefahr einer Eskalation?

Alain Antil: Eine Militärintervention bleibt möglich, ist aber nicht die wahrscheinlichste Option. Mehrere Seiten haben grosse Vorbehalte. Der nördliche Nachbar des Niger, Algerien, das kein Ecowas-Mitglied ist, hat sich etwa strikt dagegen ausgesprochen. Und US-Aussenminister Antony Blinken, dessen Land eine grosse Militäroperation im Niger unterhält, erklärte, Diplomatie sei der beste Weg, um die Krise zu lösen. Auch innerhalb der Ecowas scheinen manche Staatschefs eher eingreifen zu wollen als andere. Wahrscheinlicher ist, dass der Staatenbund versuchen wird, hart mit der Junta im Niger zu verhandeln, und deshalb seine Drohung aufrechterhält.

Bisher machen die Putschisten allerdings keine Anstalten, einzulenken.

Nein, zumindest nicht öffentlich. Sie haben in den vergangenen Tagen einen Übergangsregierungschef ernannt. Zuvor wurden mehrere Personen aus der Partei des abgesetzten Präsidenten Mohamed Bazoum festgenommen.

Die Ecowas, der fünfzehn Staaten angehören, hat auch harte Wirtschafts- und Handelssanktionen verhängt. Grenzen zum Niger wurden geschlossen. Das Nachbarland Nigeria hat Stromlieferungen gestoppt, westliche Staaten haben Hilfsgelder eingefroren. Lässt sich die Junta dadurch unter Druck setzen?

Es ist möglich, dass diese harten Massnahmen die Putschisten zum Einlenken zwingen – sie könnten ihren Rückhalt in der Bevölkerung im Gegenteil aber auch stärken, zumal diese unter den Stromausfällen, steigenden Lebensmittelpreisen und Problemen, Geld abzuheben, mit Abstand am stärksten leiden wird.

Der Niger ist nach Mali, dem Tschad, Guinea und Burkina Faso bereits das fünfte Land in der Region, in dem sich in den letzten Jahren Militärs an die Macht geputscht haben. Bisher hielt sich die Ecowas eher zurück. Warum reagiert sie nun so heftig?

Alle westafrikanischen Staaten, die nicht von einer Junta geführt werden, fürchten eine Ausbreitung der Staatsstreiche. Die Ecowas will das unbedingt verhindern. Hinzu kommt, dass der demokratisch gewählte Präsident des Niger, Bazoum, ein tatkräftiges Mitglied des Staatenbunds und ein wichtiger Verbündeter des Westens war.

Die Militärregierungen in Mali und Burkina Faso, deren Ecowas-Mitgliedschaften derzeit ausgesetzt sind, haben gesagt, sie würden eine militärische Intervention gegen den Niger als Kriegserklärung werten und «Selbstverteidigungsmassnahmen einleiten». Droht dann ein regionaler Krieg?

Die Drohung der beiden Länder ist wenig realistisch: Sie haben schon grosse Schwierigkeiten, ihr eigenes Staatsgebiet zu kontrollieren. Sollten sie Truppen gegen die Ecowas schicken, wäre das wohl rein symbolisch. Auch zu was ein Eingreifen des Staatenbunds führen würde, ist unklar. Um die Junta zu schlagen, könnte es aber zu Gefechten in der Hauptstadt Niamey kommen – und damit zu einer humanitären Katastrophe. Der nigrische Sicherheitsapparat wäre zudem im Kampf gegen die Dschihadisten geschwächt. Auch das Szenario eines Bürgerkriegs ist nicht auszuschliessen, sollte es zu einem Bruch innerhalb des nigrischen Militärs kommen.

Die Junta hat ihren Putsch mit der schlechten Sicherheitslage begründet. Dschihadistische Gruppen breiten sich zwar im Sahel aus, im Niger hat sich die Lage aber zuletzt verbessert.

Die Lage im Niger bleibt zwar sehr prekär, ist aber um einiges besser als in Burkina Faso oder Mali. In den letzten beiden Jahren ist die Zahl der Angriffe bewaffneter Gruppen und der zivilen Opfer im Niger zurückgegangen.

Was steckt also hinter dem Staatsstreich?

Das lässt sich nur vermuten. Es soll Spannungen zwischen Präsident Bazoum und seinem Vorgänger Mahamadou Issoufou gegeben haben, der viele Militärführer ernannt hat. Und es gab in der Armee wohl Vorbehalte gegen Bazoums Politik, mit den Dschihadisten im Land zu verhandeln.

Mehrere Tausend haben am Wochenende in Niamey für den Putsch demonstriert. Ist das repräsentativ für die Stimmung im Land?

Die Zahl ist im Vergleich zu den ersten Protesten sogar gestiegen. Zumindest in der Hauptstadt gibt es also eine Entwicklung zugunsten der Junta. Welcher Anteil der Bevölkerung hinter dieser steht, ist aber schwer zu sagen. Ich denke, es handelt sich um eine Minderheit. Allerdings ist sie sehr aktiv und sichtbar. Hinzu kommt ein nachvollziehbarer nationalistischer Reflex: Wenn andere Staaten dem eigenen Land mit einem Angriff drohen, sammeln sich viele hinter ihrer Führung, selbst wenn sie mit dieser nicht einverstanden sind.

Dagegen scheint es kein breites Eintreten für den Erhalt der Demokratie zu geben.

Es gab zwar Proteste gegen den Putsch, aber keine sehr grossen. In den neunziger Jahren machten sich im Sahel soziale Bewegungen für die Demokratie stark. Heute scheint bei einem Coup d’État der Rückhalt für die Putschisten grösser als jener für die abgesetzte Staatsführung. Besonders unter der Jugend dominiert der Eindruck, dass die Demokratie nicht die erhofften Entwicklungen gebracht und die Korruption noch zugenommen hat. Viele sagen sich: Versuchen wir etwas anderes.

Bei Kundgebungen waren antifranzösische Slogans zu hören, die französische Botschaft wurde attackiert. Hat Sie das überrascht?

Nein, gar nicht. Es war bekannt, dass die antifranzösische Stimmung im Niger so stark ist wie im übrigen Sahel. Der mangelnde Erfolg des französischen Militärengagements gegen die Dschihadisten in der Region ist dafür ein Hauptgrund. Zudem gibt es den Vorwurf, Frankreich habe im Sahel viele korrupte Regimes unterstützt. Manche halten es auch für nicht normal, dass mehr als sechzig Jahre nach der Unabhängigkeit noch französische Soldaten in Ländern der Region stationiert sind. Hinzu kommen Verschwörungserzählungen, die sich über die sozialen Netzwerke verbreiten – etwa, dass Frankreich Soldaten schicke, um sich die Ressourcen der Sahelstaaten unter den Nagel zu reissen. Die Leute glauben das tatsächlich. Präsident Bazoum wurden die Militärpartnerschaften des Niger mit den westlichen Staaten oft vorgehalten. Vor allem die mit Frankreich, für das der Niger seit dessen Abzug aus Mali der wichtigste Verbündete war.

In Mali, das die französischen Truppen aus dem Land gedrängt hat und seitdem auf Kämpfer der russischen paramilitärischen Gruppe Wagner setzt, hat sich die Sicherheitslage allerdings weiter verschlechtert. Auch in Burkina Faso, das Anfang Jahr mit Frankreich gebrochen hat, ist die Situation katastrophal. Wirken solche Beispiele nicht abschreckend?

Sowohl in Mali als auch in Burkina Faso versuchen die Militärs, die Leute mit Propaganda zu beruhigen. In Malis Hauptstadt Bamako denken manche wirklich, die Lage habe sich verbessert. Bei den Unterstützern der Junten dominiert die Haltung, dass ein Wechsel der Staatsführung und der Verbündeten nötig war – auch im Niger. Die negativen Entwicklungen in den Nachbarstaaten ändern daran wenig.

Auf Demonstrationen in Niamey waren auch russische Fahnen zu sehen. Darf sich der Kreml nun freuen?

Sollte die Junta an der Macht bleiben und der Niger sich vom Westen abwenden, hätte Russland natürlich Grund zur Freude. Es ist möglich, dass man dann auf Wagner setzt. Allerdings wurde das auch bei Burkina Faso angenommen, das bisher keine russischen Kämpfer zu Hilfe geholt hat. Nichts garantiert also, dass der Niger die Wagner-Gruppe ins Land holen wird; fraglich ist auch, ob diese aktuell überhaupt Kapazitäten dafür hat. Zwar gibt es Gerüchte, dass Vertreter der nigrischen Junta letzte Woche in Mali Wagner-Leute getroffen hätten. Mehr aber noch nicht.

Stärker als Sympathien für Russland oder Ablehnung gegenüber Frankreich dürften viele Menschen im Niger wohl ganz konkrete ökonomische Sorgen umtreiben.

Das BIP pro Kopf ist eines der niedrigsten der Welt, es gibt riesige Probleme bei der Bildung oder der Gesundheitsversorgung, das Bevölkerungswachstum ist immens. Auch wenn die Wirtschaft unter Präsident Bazoum gestärkt wurde, ist die Situation äusserst heikel. Hinzu kommt die prekäre Sicherheitslage. All das wird sich mit der Junta aber nicht verbessern, im Gegenteil.

Der Putsch ist nun schon zwei Wochen her. Kann er noch rückgängig gemacht werden?

Das wird mit jedem Tag, der vergeht, unwahrscheinlicher. Ich halte zwei Szenarien für möglich. Entweder die Junta gibt die Macht ab, unter der Bedingung, dass Präsident Bazoum nicht zurückkehrt. Das könnte zu einer Art Einheitsregierung mit vielen Beteiligten führen. Oder sie bleibt an der Macht. Für den Niger würde das die Aussetzung oder gar das Ende zahlreicher Hilfsgelder und internationaler Kooperationen bedeuten. Die Folgen für die Wirtschaft wären heftig, zumal die Sanktionen der Ecowas hinzukommen. Die militärische Zusammenarbeit mit Frankreich und den USA, die in der Region am aktivsten sind, wäre wohl beendet. Die dschihadistischen Gruppen würden erstarken. Es käme zu einer noch stärkeren Destabilisierung des gesamten Sahels.

Hätte das auch Auswirkungen auf die Migration nach Europa?

Das ist unsicher. Der Niger ist vor allem ein Durchgangsland Richtung Europa, Nigriner:innen selber emigrieren traditionell eher gegen Süden. Es wäre nicht ausgeschlossen, dass die Junta das Migrationsabkommen mit der EU fortsetzt, um Menschen an der Weiterreise zu hindern. Spitzt sich die Sicherheitslage zu, ist es auch möglich, dass die Migration über den Niger allgemein noch schwieriger wird.

Der Sahelexperte Alain Antil leitet das Zentrum für Subsahara-Afrika am Forschungsinstitut für Aussenpolitik (Institut français des relations internationales, IFRI) in Paris.