Film: «Ganoven-Ede» als Märchenonkel
Junge Frauen, die per Autostopp in die Ferien fahren wollen; Hausfrauen, denen die Enge ihrer Wohnung und das Kindergewusel zu viel werden und die in die nächste grössere Stadt zum Feiern flüchten; Schulmädchen, die zu unbekannten Männern ins Auto steigen, verlockt von einem Stück Schokolade oder bloss der Aussicht, nicht mehr zu Fuss gehen zu müssen.
Die 1967 vom biederen Charakterkopf Eduard Zimmermann erfundene Fahndungssendung «Aktenzeichen XY ungelöst» bewies jahrzehntelang eine grosse Vorliebe für derlei Eröffnungen von grausigen Mordfällen. Zimmermanns Markenzeichen in dieser weltweit ersten True-Crime-Show: Er empfahl allen weiblichen Geschöpfen mehr oder weniger explizit, zu Hause zu bleiben. Generationen von Deutschen, Österreicherinnen und Schweizern verinnerlichten diese Bedrohung, die an Strassen, in Bars oder auch in dunklen Wäldern neben der Autobahn auf Frauen lauern soll: Gefahrenzone Freiheit.
Alles eine Fiktion – wie Regina Schilling in ihrer persönlich eingefärbten neuen TV-Dokumentation «Diese Sendung ist kein Spiel» zeigt. Die grösste potenzielle Gefahr für Anhalterinnen war ein Autounfall. Und dass die meisten Gewalttaten an Frauen und Kindern in der vermeintlichen Geborgenheit des Heims stattfinden, weiss man unterdessen auch.
Schon in ihrem preisgekrönten Film «Kulenkampffs Schuhe» (2018) schaffte es Schilling, das Unheimliche des deutschen Nachkriegsfernsehens atmosphärisch dicht einzufangen: Hans-Joachim Kulenkampff moderierte «Einer wird gewinnen» mit amputierten Zehen und anderen Andenken an den Russlandfeldzug, der jüdische Quizshowmaster Hans Rosenthal wiederum hatte den Holocaust in einem Berliner Schrebergarten versteckt überlebt.
Dass hier eine Nation ihre NS-Verbrechen verdrängte und gleichzeitig begierig vor Zimmermanns assortierten Kriminalfällen sass, bleibt in dieser Dokumentation eine Randpointe. Schilling zeigt aber gut, wie die konservative Politik von «Aktenzeichen XY» profitierte: von der Gleichsetzung der Grossstädte mit Verbrechen, vom kleinbürgerlichen Denunziantentum und von der Verweigerung jedes Aufbruchs.