IS-Prozesse: Die Frau, die Antworten sucht
Seit Jahren sind Tausende ausländische IS-Anhänger:innen im Nordosten Syriens inhaftiert. Jetzt hat die kurdische Autonomieregierung entschieden, sie vor Gericht zu stellen. Kann das gut gehen?
Sabah al-Ahmad erinnert sich noch genau an den Moment, als sie ihren Sohn Ahmad das letzte Mal sah. Daran, wie er sich am Abend des 20. Januar 2022 seine Kamera schnappt und sagt, er müsse los. Am Morgen hatten sich zwei Anhänger des sogenannten Islamischen Staates (IS) vor dem Al-Sina’a-Gefängnis in der nordostsyrischen Stadt Hasaka, in dem Hunderte mutmassliche IS-Anhänger gefangen gehalten werden, in die Luft gesprengt. Mehrere Dschihadisten waren ins Gefängnis eingedrungen – mit dem Ziel, ihre Kameraden zu befreien. Sabah al-Ahmad versucht, ihren Sohn aufzuhalten; er geht dennoch.
Nun sitzt die Mutter (47) auf dem Sofa im Erdgeschoss ihrer kleinen Wohnung in Hasaka. An der Stirnseite des Raums steht ein schwarzes Regal, das sie zu einer Art Schrein für ihren verstorbenen Sohn umgewidmet hat. Da steht die Wasserpfeife, die Ahmad immer geraucht hat. Ein Bild von ihm, dünner Schnauzer, sanftes Lächeln, unter dem Militärparka lugt ein Babykätzchen hervor. Und sein grösster Schatz: seine Kamera, eine schwarze Canon EOS 77D.
Zwei Jahre vor seinem Tod, mit neunzehn, hatte sich Ahmad als Fotograf den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) angeschlossen, der Militäreinheit der kurdisch kontrollierten Autonomen Region Nord- und Ostsyrien (AANES). Wenige Stunden nach dem Abschied von der Mutter wird er von einem IS-Heckenschützen per Kopfschuss getötet. Ahmad ist eines von 121 Mitgliedern der SDF, die während des Gefängnisaufstands ihr Leben verlieren. Bis heute fragt sich die Mutter: Hätte der Tod ihres Sohnes nicht verhindert werden können?
Territorial besiegt
2013 tritt der IS erstmals in der Region in Erscheinung. Während sich das syrische Regime rasch zurückzieht, sind es vor allem die Kurd:innen und verbündete Milizen, die sich den Dschihadist:innen entgegenstellen. Ab 2014 unterstützt sie eine von den USA geführte Allianz im Kampf – vor allem aus der Luft. Als die SDF 2019 die Ortschaft Baghus, den letzten Rückzugsort des IS nahe der irakischen Grenze, einnehmen, gilt die Gruppe territorial als besiegt. Tausende Kämpfer:innen und deren Angehörige werden gefangen genommen.
Für die Kurd:innen stellt sich von da an eine Frage: Wie sollen sie mit den Männern und Frauen verfahren, die viele Jahre lang der wahrscheinlich gefährlichsten Terrororganisation der Welt angehörten und von denen viele nicht einmal aus Syrien kommen?
Die Frau, deren Job es ist, Antworten auf diese Frage zu finden, hat einen ernsten Blick, schulterlange, blond gefärbte Haare und arbeitet in Rakka. Viele Jahre lang galt die Stadt am Euphrat als Hochburg des IS in Syrien. Auch sechs Jahre nach der Befreiung im Herbst 2017 ist die Zerstörung überall sichtbar. Etwas abseits vom Stadtzentrum steht ein kleiner, quadratischer Neubau aus weissem Stein, auf dessen Fassade eine goldene Waage angebracht ist. Drinnen sitzt Rima Berkel, vierzig Jahre alt, Kovorsitzende des Justizrats der autonomen Selbstverwaltung – so etwas wie die Justizministerin.
42 000 mutmassliche IS-Angehörige, Männer, Frauen, Kinder, leben in Camps auf dem Gebiet der AANES. 10 000 grösstenteils syrische Männer sitzen in den Gefängnissen – 3700 davon verbüssen ihre Strafen, der Rest wartet noch auf sein Urteil. Rund 2000 der Inhaftierten kämen aus dem Ausland, sagt Berkel. Laut dem Nachrichtendienst des Bundes sind seit 2001 insgesamt 78 «dschihadistisch motivierte Reisende» aus der Schweiz nach Syrien und in den Irak ausgereist. Derzeit sollen sich noch etwa zehn Männer, Frauen und Kinder, «die über das Schweizer Bürgerrecht verfügen, im syrisch-irakischen Konfliktgebiet aufhalten».
Keine Todesstrafe
Die Dschihadist:innen zur Rechenschaft zu ziehen, ist für Rima Berkel zur Lebensaufgabe geworden. Sie selbst hat bis 2018 als Richterin in Afrin gearbeitet. Als die Türkei die kurdische Stadt gemeinsam mit islamistischen syrischen Milizen überfiel, musste sie fliehen. «Es ist egal, ob sie sich al-Nusra nennen, Nationale Syrische Armee oder Islamischer Staat, am Ende sind es alles die gleichen Leute», sagt Berkel. Gleichzeitig würden die türkischen Angriffe die juristische Aufarbeitung erschweren. Von den drei Sondergerichten in der AANES, in denen Verfahren gegen IS-Angehörige geführt wurden, ist nur eines geblieben: das in der Stadt Kamischli.
Das Gerichtsgebäude befindet sich am Rand der Stadt. Aus Sicherheitsgründen dürfen wir keine Fotos machen, keinem Prozess beiwohnen. Zu gross ist die Gefahr, dass jene, die in die Strafverfolgung involviert sind – die Anwältinnen, Ermittler, Richter:innen –, dadurch zur Zielscheibe werden. Schahin Lali hat sich dennoch zu einem Gespräch bereit erklärt. Er ist 35, war zwei Jahre lang Vorsitzender der Anwaltsunion. Lali ist stolz auf das Antiterrorgesetz, das die Selbstverwaltung entworfen hat, um mit den IS-Anhänger:innen einen Umgang zu finden.
«Wir bemühen uns um rechtsstaatliche Verfahren. Eine Todesstrafe wie im Irak gibt es bei uns nicht», sagt Lali. Jede:r Angeklagte erhalte rechtlichen Beistand und könne das Urteil anfechten. Etwa 8000 Personen seien auf diesem Wege bislang verurteilt worden. Doch viele Menschen in Rojava, wie die Kurd:innen den Nordosten Syriens nennen, hätten dafür vor allem eines übrig: Unverständnis.
«Die Leute fragen zu Recht: Warum seid ihr so nachsichtig mit jenen, die uns, ohne zu zögern, geköpft hätten?», erzählt Lali. «Aber wir wollen keine Rache, sondern Gerechtigkeit.» Das grössere Problem aber seien die Angeklagten selbst: «Diese Leute verachten uns und unser System.» Einmal hat Lali selbst einen IS-Kämpfer vertreten. Dieser sei angeklagt gewesen, einem anderen die Kehle durchgeschnitten zu haben. Er habe Mitleid mit dem armen Mann gehabt. Als Anwalt habe er versucht zu argumentieren, der Mann sei selbst Opfer des Brainwashings der IS-Propaganda geworden. «Vor Gericht hat er dann aber gesagt: Ich brauche keinen Anwalt. Ich bereue nichts. Ich habe es aus Überzeugung getan und würde es wieder tun.»
Geht es nach Justizministerin Rima Berkel, gibt es beim Umgang mit den IS-Gefangenen drei Hauptprobleme: Erstens fehle es an Platz. Die normalen Gefängnisse seien nicht gut genug gesichert, weshalb man die IS-Anhänger:innen in Militärgefängnisse gesperrt habe. Diese seien inzwischen überfüllt, und man habe nicht genügend Leute, um sie zu bewachen. Zweitens fehle es an psychologischer Expertise und entsprechenden Deradikalisierungsangeboten für die Gefangenen. Drittens fehle es bei der Aufklärung der Verbrechen an internationaler Kooperation. «Die Ausländer sind am gefährlichsten und am besten organisiert. Viele haben ihre Pässe verbrannt, versuchen, ihre Identitäten zu verschleiern – wir brauchen Austausch mit internationalen Sicherheitsbehörden, um ihrer Herr zu werden», sagt Berkel. Einen solchen Austausch gebe es bislang aber nicht.
Das habe vor allem einen Grund, sagt Tanya Mehra, die das Programm «Rechtsstaatliche Antworten auf den Terrorismus» am Internationalen Zentrum für Terrorismusbekämpfung in Den Haag leitet. «Die autonome Selbstverwaltung ist international von keinem Land anerkannt und unterhält auch keine diplomatischen Beziehungen.» Daher könnten die Behörden in Rojava bei ihren Strafverfahren gegen den IS nicht um Rechtshilfe oder Daten und Dokumente aus anderen Staaten ansuchen. Vom Schweizer Aussendepartement (EDA) heisst es auf Anfrage, die «autonome Verwaltung» sei «kein staatliches Organ». Die Möglichkeiten für eine Zusammenarbeit in Strafsachen müssten deshalb «erst geklärt werden».
Hinzu kommt daher laut Mehra, dass die Gerichtsurteile der AANES aufgrund der fehlenden Anerkennung international keine Gültigkeit haben. Fraglich ist auch, inwiefern sie Gültigkeit hätten, wenn Rojava eines Tages wieder in den syrischen Staat eingegliedert werden sollte. «Ich denke nicht, dass das syrische Regime die Urteile anerkennen würde», sagt Mehra.
Gefährliche Pattsituation
Justizministerin Berkel fordert deshalb ein internationales Sondertribunal in Syrien: «Die Leute haben ihre Verbrechen auf unserem Boden, an unseren Leuten begangenen. Wir haben die Beweise und die Augenzeugen hier.» Vom EDA heisst es auf Anfrage bloss: «Für die allfällige Schaffung eines Sondergerichts gibt es zahlreiche juristische, materielle und politische Herausforderungen, die geklärt werden müssen.»
Dass die AANES die IS-Gefangenen nicht einfach ausliefern will, liegt wahrscheinlich auch daran, dass diese eines der wenigen Druckmittel sind, die sie nach dem Sieg über den IS noch hat. Sie sind ein Grund dafür, dass die USA noch immer knapp tausend Soldaten in der Region stationiert haben. Sollten diese verschwinden, fürchten viele eine erneute Invasion der Türkei, die in der Vergangenheit immer wieder erklärt hat, die Selbstverwaltung zu Fall bringen zu wollen.
In den letzten Jahren ist so eine Pattsituation entstanden: Das Ausland verschloss sich der Forderung nach einem Sondertribunal; doch einfach ausliefern will die Selbstverwaltung die Menschen auch nicht – was wiederum ganz im inner- und sicherheitspolitischen Interesse vieler westlicher Staaten liegt. Im noch heute gültigen Entscheid des Bundesrats von 2019 heisst es etwa, die Schweiz verweigere vermeintlich terroristisch motivierten Rückkehrer:innen zwar nicht die Einreise. «Allerdings will der Bundesrat keine aktive Rückführung von Erwachsenen durch Schweizer Behörden.»
Die Folge: Laut Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch wurden in den letzten Jahren Tausende Ausländer:innen, darunter auch Kinder, unrechtmässig in Gefängnissen und Camps in Syrien inhaftiert. Abgesehen von einigen Iraker:innen seien bis dato keine Ausländer:innen einer Justizbehörde vorgeführt worden, um die Notwendigkeit und die Rechtmässigkeit ihrer Inhaftierung zu prüfen. Staaten, die dies in Kauf nehmen oder – wie Grossbritannien oder Dänemark – ihren Bürger:innen die Staatsangehörigkeit entziehen oder sich nicht dafür einsetzen, sie zügig zurückzuholen, machten sich dabei mitschuldig. Auf Anfrage teilt das Staatssekretariat für Migration mit, in der Schweiz seien drei Entzugsverfahren abgeschlossen und zwei weitere beim Bundesverwaltungsgericht hängig.
Um dieser Kritik entgegenzutreten und der Pattsituation ein Ende zu bereiten, hat die Selbstverwaltung Mitte Juni angekündigt, mit Gerichtsverfahren gegen die inhaftierten ausländischen IS-Mitglieder beginnen zu wollen. Davon sollen Personen aus etwa sechzig Staaten betroffen sein. «Wir gehen diesen Schritt, weil die internationale Gemeinschaft ihren Verpflichtungen zur gerichtlichen Verfolgung der Terroristen nicht nachkommt», so Bedran Çiya Kurd vom Büro für Aussenbeziehungen. Derzeit würden in Nordostsyrien die Vorbereitungen laufen. Wann und wo die Verhandlungen stattfinden sollen, ist noch nicht bekannt.
Sabah al-Ahmad ist sich sicher: Hätten westliche Staaten rechtzeitig ihre Angehörigen zurückgeholt, hätte es den Gefängnisausbruch in Hasaka nie gegeben – und ihr Sohn wäre heute noch am Leben. «Es ist die Pflicht jedes Landes, sich so um seine Staatsbürger zu sorgen, wie eine Mutter oder ein Vater sich um ihre Kinder sorgen.» Ihr Sohn und all die anderen gefallenen Kämpfer:innen hätten ihr Leben im Kampf gegen den IS schliesslich nicht nur für die Menschen in Syrien geopfert, sondern für die ganze Welt.