Kommentar von Jan Jirát: Im Angriffsmodus

Nr. 34 –

Die Schweizer Armee prägt die politische Debatte wie schon lange nicht mehr. Es ist die Folge eines Versagens der Politik, die zu keiner Zukunftsvision fähig ist.

Zwei Monate vor den nationalen Wahlen ist die aktivste Playerin auf der Politbühne weder eine bestimmte Partei noch eine Politikerin – es ist die Armee. Mit einer zur Show aufgeblasenen «Informationsveranstaltung» hat das Militär Ende letzter Woche voller Selbstbewusstsein die neue strategische Stossrichtung präsentiert. «Verteidigung»: Kein Wort kommt darin häufiger vor – entsprechend heisst auch das Strategiepapier «Die Verteidigungsfähigkeit stärken».

Doch ein vertiefter Blick in das rund fünfzigseitige Dokument offenbart das Gegenteil: Die Armee ist auf Angriffskurs. Die neue Strategie ist denn auch vor allem ein unverhohlener Aufrüstungswunschkatalog, adressiert an die Politik. Konkret steht ein Beschaffungsvolumen von rund vierzig Milliarden Franken im Raum, was Betriebskosten von weiteren sechzig Milliarden zur Folge hätte. Mit diesem Hundert-Milliarden-Paket sollen sämtliche Bereiche – Luftverteidigung, Bodentruppen, Kommunikation, Transportkapazitäten, Cyberraum – ausgebaut beziehungsweise «modernisiert» werden, wie es im Armeejargon heisst.

Hinzu kommt der offensiv formulierte Wunsch, einen potenten Geheimdienst aufzubauen, der fähig sein soll, «grosse Datenbestände, die nachrichtendienstlich relevant sind, rasch und automatisiert auszuwerten». Etwas zurückhaltender formuliert ist das Ziel, künftig auch den Armeebestand wieder zu erhöhen, der heute bei 140 000 Soldat:innen liegt. Als Grundlage des Forderungskatalogs dient übrigens ein einziges Szenario, das selbst der Nachrichtendienst des Bundes für unrealistisch hält: dass die Schweiz Ziel eines militärischen Angriffs wird.

Die Militärspitze um Korpskommandant Thomas Süssli weiss genau, dass ihr Vorstoss auf offene Ohren stossen wird. Im Frühsommer 2022 beschloss das bürgerlich dominierte Parlament eine Erhöhung des Budgets – von aktuell 5,5 auf voraussichtlich 9,4 Milliarden Franken im Jahr 2030. Doch Ende Jahr liess der Bundesrat durchblicken, dass eine solche Aufstockung in so kurzer Zeit nicht finanzierbar sei. Der aktuelle Armeeauftritt ist deshalb als klare Aufforderung an den Bundesrat zu verstehen, gefälligst den Fuss vom Bremspedal zu nehmen – und stattdessen aufs Gas zu drücken.

Das Vorpreschen der militärischen Führung ist nur logisch. Der völkerrechtswidrige russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat zu einer innenpolitischen Verschiebung geführt: Die Sicherheitspolitik und damit auch die Armee sind von der Peripherie schlagartig ins Zentrum der politischen Debatte gerückt.

Wie praktisch überall in Europa stehen dabei allerdings nicht relevante Fragen im Vordergrund – etwa, mit welchen konkreten Mitteln die Selbstverteidigung der Ukraine unterstützt werden soll und kann. Oder wie eine friedensbasierte europäische und globale Ordnung möglich ist, die sich den Herausforderungen der Klimakrise stellt. Stattdessen folgt auch die bürgerliche Schweiz blind dem militaristischen Narrativ, dass nur eine stark aufgerüstete und abschreckende Armee Sicherheit und Stabilität bringe.

Dabei gibt es einen fundamentalen Unterschied zur Situation anderer europäischer Länder: Die Schweiz gehört keinem Verbund an, ja sie hat nicht mal einen Plan für die eigene Rolle in der Welt: Will sie neutral und möglichst autonom sein, wie das die SVP fordert? Will sie eine weitere Annäherung an die Nato, wie das bis in die SP hinein vorstellbar ist? Oder sich auf die humanitäre Tradition berufen und Genf wieder zum globalen Zentrum der Friedenspolitik und Abrüstung machen, wie das die Grünen fordern? Die Armee nutzt dieses Vakuum – das Ausdruck eines grossen politischen Versagens ist –, um ebenso geschickt wie dreist für ihre Interessen einzustehen.

Diese Planlosigkeit ist fatal. Sie führt dazu, dass im Feld der Sicherheitspolitik das Steuergeld dorthin fliesst, wo Druck und Macht am grössten sind, statt in Investitionen und Massnahmen, die Leben und Alltag der Bürger:innen wirklich sicher machen. Wozu bestenfalls auch die Armee einen Beitrag leisten kann.