Kost und Logis: Fäden verknüpfen

Nr. 34 –

Bettina Dyttrich findet textile Techniken nicht mehr doof

Es war unfair, da waren wir uns einig. Wenn der Klassenlehrer krank war, mussten die Mädchen trotzdem in die sogenannte Handarbeit. Die Jungen hatten frei, denn das sogenannte Werken unterrichtete der Klassenlehrer. Die Handarbeitslehrerin war nie krank. Aber permanent schlecht gelaunt.

Mit Holz arbeiten Männer, mit Textilien Frauen: Als ich ein Kind war, hatten schon viele Schulen diese rational nicht nachvollziehbare Trennung über den Haufen geworfen. Aber die katholisch-konservative Kleinstadt im Osten hatte wieder einmal Verspätung.

Mit Mitte zwanzig begann ich, wieder zu stricken und zu häkeln. Und war überrascht, wie gut mir das tat. Ich glaube, es regt einen Teil des Hirns an, den ich sonst nicht so leicht erreiche. Ausserdem brauche ich Socken. Aber ich treffe immer wieder Frauen, die irritiert sind: Was, du machst das? Oft haben sie in der Schulzeit Ähnliches erlebt, hätten gern mit Holz oder Metall gearbeitet und durften nicht. Einen Mann, der stricken lernen wollte und nicht durfte, habe ich nie getroffen. Nichts Neues: Das Patriarchat teilt den Geschlechtern nicht nur Tätigkeiten zu, es gibt diesen auch eine klare Hierarchie. Was mit Fäden und Schnüren zu tun hat, ist nicht ernst zu nehmen. Wie tief diese Abwertung geht, erfuhren Textilkünstlerinnen jahrzehntelang: Oft konnten sie ihre Werke bestenfalls als Wandbehang fürs Pfarreizentrum verkaufen.

Carel van Schaik und Kai Michel, die in ihrem Buch «Die Wahrheit über Eva» der anthropologischen Geschichte der Frauenfeindlichkeit nachgehen, nennen die Erfindung von Fäden, Schnüren und Seilen «eine der am meisten unterschätzten Innovationen der Menschheitsgeschichte». Im Gegensatz zu Werkzeugen und Waffen aus Stein oder Knochen sind Körbe, Säcke, Taschen, Kleider, Fangnetze oder Fischreusen einfach nicht erhalten geblieben. Dabei waren Behälter noch viel grundlegender als Jagdwaffen. So argumentierte auch die US-amerikanische Science-Fiction-Autorin Ursula K. Le Guin in ihrer «Carrier Bag Theory of Fiction», in der sie den Jagd-und-Krieg-Heldengeschichten ein anderes Erzählen entgegenstellte. Eines, das auf dem Sammeln beruht.

Und dann sind Angehörige der Ethnie der Kawésqar aus Patagonien gerade im Völkerkundemuseum Zürich zu Gast. Wer mag, kann bei ihnen flechten lernen. Mit Papierstreifen – das Sumpfgras, das sie sonst verwenden, ist wegen der Hitze verdorben. Ich schaue es an und sage: Das sind doch Binsen, die gibt es bei uns auch.

Über Wikipedia finden wir heraus, dass es tatsächlich dieselbe Pflanzengattung ist. Als Kind versuchte ich oft, mit Binsen zu flechten, und wusste nicht, wie. Jetzt habe ich endlich gelernt, wie es geht. Inzwischen haben sich feministische Kollektive textile Techniken angeeignet, neu definiert, von patriarchalen Klischees befreit. Tätigkeiten, die auf eine ruhige, hartnäckige Art in die Zukunft weisen: Solange es noch Fäden zu verknüpfen gibt, geht es irgendwie weiter.

Bettina Dyttrich ist WOZ-Redaktorin. Weitere Flechtworkshops mit Kawésqar gibt es zwischen 30. August und 1. September 2023. www.musethno.uzh.ch