Anthropologie: «Das sind ja Kommunisten!»
Sobald es Besitz zu vererben gibt, werden Gesellschaften patriarchal: Der Anthropologe Carel van Schaik erklärt, was Jäger:innen und Sammler:innen mit Jesus zu tun haben – und was wir heute von ihnen lernen könnten.
WOZ: Carel van Schaik, viele Menschen haben Hemmungen, sich selbst als biologische Wesen zu betrachten. Was verständlich ist – wenn es um Menschen geht, sind es meist die Rechten, die mit Biologie argumentieren.
Carel van Schaik: Ja, wir halten uns gerne für reine Kulturwesen. Andererseits wissen wir, dass wir uns aus menschenaffenartigen Vorfahren entwickelt haben. Wie alle anderen Tiere auch haben wir also eine biologisch fundierte Natur. Doch dieser Gedanke bereitet vielen Unbehagen, weil der biologische Blick auf Menschen lange vom 19. Jahrhundert geprägt war – und damit auch vom damals herrschenden Determinismus, Rassismus und Sozialdarwinismus. All das ist aber längst wissenschaftlich widerlegt. Mein Koautor, der Historiker Kai Michel, und ich betonen immer wieder, wie wichtig die Kultur für die menschliche Spezies ist. Die Biologie wurde zu lange missbraucht, um etwa Argumente für die Unterdrückung von Frauen zu liefern, die aber überhaupt nicht stimmen.
Auf welche Quellen stützen Sie sich?
Einerseits auf Ethnologie und Archäologie: Es gab viele vorstaatliche Kulturen, in denen Frauen überhaupt nicht unterdrückt wurden, und sogar einige, wo sie als etwas wichtiger galten als Männer. Die alte These, die Biologie lege eine dominante Rolle der Männer fest, ist allein dadurch widerlegt. Andererseits stützen wir uns auf die Biologie: Es gibt Arten, bei denen die Männchen die Weibchen nicht dominieren, obwohl sie deutlich grösser und stärker sind. Dass in den meisten modernen Gesellschaften Männer bis vor kurzem dominiert haben, lag an kulturellen Prozessen. In unserem neuen Buch «Mensch sein» zeigen wir, dass es immer eine Interaktion zwischen unserer biologischen Veranlagung und kulturellen Prozessen gibt. Erst wenn wir das verstehen, verstehen wir uns selbst und die Seltsamkeiten des modernen Lebens wirklich.
Carel van Schaik
Der Zoologe und Anthropologe Carel van Schaik (70) stammt aus den Niederlanden und hat in Indonesien Orang-Utans erforscht. Von 2004 bis zu seiner Emeritierung 2018 war er Direktor des Anthropologischen Instituts der Universität Zürich. Mit dem Historiker Kai Michel hat er drei erfolgreiche populärwissenschaftliche Bücher geschrieben: «Das Tagebuch der Menschheit» (2016) über die Hintergründe der biblischen Geschichten, «Die Wahrheit über Eva» (2020) über die Ursprünge des Patriarchats und neu «Mensch sein. Von der Evolution für die Zukunft lernen» (2023), alle im Rowohlt-Verlag erschienen.
Sie schreiben, unsere Spezies habe während 99 Prozent der Menschheitsgeschichte in kleinen solidarischen Gruppen gelebt, die Frauen seien nicht benachteiligt gewesen. Aber so genau weiss man das ja nicht – es gab damals noch keine Schrift.
Aber wir haben eine Fülle an Quellen, um uns ein Bild zu machen. Es gibt eine grosse Menge an ethnografischen Daten über Gesellschaften ohne Staat, die zeigen, dass längst nicht überall die Männer dominierten.
Aus der ethnologischen Forschung können Sie aber nicht einfach Rückschlüsse auf die Steinzeit ziehen.
Das stimmt. Doch die Forschung zeigt auch, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Frage, wie eine Gesellschaft ihre Nahrung beschafft, und jener, wie hierarchisch sie ist. Das sollte für alle Menschen gültig sein, seit es sie gibt. Auch dank der Archäogenetik weiss man heute viel mehr: zum Beispiel, wer sich fortgepflanzt hat und wer nicht. Oder wer bei der Familiengründung bei den Verwandten blieb und wer von aussen dazukam. Da zeigt sich: Sobald die Landwirtschaft intensiv wird, sobald es Besitz zu vererben gibt, werden die Gesellschaften patriarchal. Dann bleiben Männer am Ort der Geburt und erben das Land, und die Frauen müssen in die Fremde und verlieren ihre alten Netzwerke. Bei Jägern und Sammlern war das noch flexibel. Wir sehen auch, dass seit etwa 7000 Jahren für lange Zeit die genetische Variabilität unter den Männern im Vergleich zu Frauen abnahm. Das bedeutet: Einige mächtige Männer hatten sehr viele Kinder, viele andere gar keine.
Der russische Anarchist Pjotr Kropotkin versuchte schon vor 120 Jahren zu beweisen, dass Kooperation ein Teil der Evolution ist. Hatte er also recht?
Grundsätzlich ja. Wir wissen heute, dass das Evolutionsmodell, von dem er ausging, falsch war. Aber wo er sich auf ethnologische Beobachtungen bezog, lag er goldrichtig.
Kann man sagen, dass es in der Menschheit eine anarchistische Tradition gibt?
Natürlich. Diese Jäger und Sammler sind gewissermassen Kommunisten: sehr egalitär und völlig selbstverwaltend! Die Idee des Kommunismus kommt dorther, wir haben Hunderttausende von Jahren so gelebt. Darum sind Ideen von Gerechtigkeit, von fairer Verteilung tief in unserer Psychologie verankert. Diese Idee wurde immer wieder neu propagiert, auch von Jesus. Er verhielt sich wie ein Jäger und Sammler, zog in einer Gruppe herum, lehnte Besitz ab, pochte auf Gerechtigkeit, und Frauen spielten in seiner Bewegung prominente Rollen. Auch die Verhaltensökonomie kann heute nachweisen, dass Menschen gerne teilen. Es macht glücklich, anderen etwas Gutes zu tun.
Noch ein umstrittenes Thema: Sie schreiben, es gebe psychologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen.
Ja – im Durchschnitt! Dieser Zusatz ist wichtig, denn es gibt eine riesige Überlappung. Und, das müssen wir heute noch hinzufügen: Natürlich hat man bisher fast nur Gruppen von Hetero- und cis Personen erforscht. Betrachtet man Individuen, können die psychologischen Unterschiede genau umgekehrt sein. Aber wenn man das Verhalten der Geschlechter über grosse Populationen anschaut, sieht man universelle Unterschiede, die also nicht kulturell bedingt sind, auch wenn ihre Ausprägung variiert. Sobald das Patriarchat entsteht, werden Genderrollen für Männer und Frauen vorgeschrieben, die komplett anders sind als vorher. Es geht nicht darum, dass es keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt; es geht darum, wie man solche wertet und ob man sie hierarchisiert. Auch hier: Die Biologie gibt nichts vor, es ist die Kultur, die den Menschen Dinge vorschreibt: etwa dass eine Frau und ein Mann ein Leben lang treu zusammenleben müssen. Aber wie wir zeigen, ist die heteronormative Monogamie eine patriarchale Erfindung zur perfekten Weitergabe von Eigentum. Während 99 Prozent der Menschheitsgeschichte gab es die Idee ewiger Treue nicht.
Haben Männer eine stärkere Affinität zu materieller Macht?
Ja. Denn sie haben viel mehr Nachwuchs, wenn sie sich mit mehreren Frauen einlassen, als Frauen, die das mit mehreren Männern tun.
Klar, Männer müssen ja nicht schwanger werden.
Genau. Ein Mann kann mit zwanzig Frauen locker hundert Kinder zeugen. In den frühen Despotien gab es Herrscher, die sich Harems hielten: Kinderreichtum war ein Zeichen der Macht. Eine Frau hingegen kann vielleicht maximal zwanzig Kinder gebären, egal mit wie vielen Männern sie verheiratet ist.
Und dann ist sie erschöpft … Aber den biologischen Vorteil, dass sie mehr Nachkommen zeugen können, hatten die Männer doch schon als Jäger und Sammler.
Stimmt, aber bei Jägern und Sammlern gibt es meist eine klare Arbeitsteilung. Von einem Mann wurde erwartet, dass er seinen Teil, oft Fleisch und Honig, einbrachte. Das für mehrere Familien aufzutreiben, war schwierig. Man hatte noch keine nennenswerten Vorräte oder Besitz. Eher ausnahmsweise hatten Männer eine zweite Frau – in der Regel nur dann, wenn Männer knapp waren. Und es gab auch Frauen mit mehreren Männern. Doch wo das passierte, war es freiwillig und nicht mit Macht über andere verknüpft.
Und wenn sich ein Mann mit Gewalt durchsetzte?
Bei mobilen Jägern und Sammlern wird Dominanzverhalten in der Regel nicht goutiert. Dazu gibt es viel ethnografisches Material. Wenn ein Kerl sagt: «Ich bin jetzt viel wichtiger als du», lachen ihn die anderen aus. Wenn er damit nicht aufhört, gehen sie auf Abstand. Und wenn er sich immer noch egoistisch benimmt, kann er umgebracht werden. Erst in der neuen Welt der eigentumsbasierten Landwirtschaft kippt das. Mit ihrem Reichtum können sich Einzelne Gefolgsleute kaufen, die anderen unterdrücken und Frauen monopolisieren.
Im Buch «Die Wahrheit über Eva» bringen Sie ein faszinierendes Beispiel: Im Heiligtum Göbekli Tepe, das vor über 10 000 Jahren in Anatolien entstand, sind lauter gefährliche, aggressive Tiere dargestellt. Es wurde aber erst gebaut, als diese Tiere in der Region selten geworden waren. Haben die Männer die Jagd vermisst?
Die Jagd war eine Hauptquelle von Prestige. Wenn du in einer Jäger-Sammler-Gruppe viel Jagderfolg hast, lieben dich alle, weil die Beute unter allen geteilt wird. Solche Männer waren auch attraktiver als Partner. Was passierte mit den Männern, als die Menschen anfingen, sesshaft zu werden, und in der Umgebung das grosse Wild allmählich ausstarb? Sie konnten noch Kaninchen fangen, aber davon wird man nicht berühmt. Als die Bevölkerung wuchs und die Konkurrenz um Land begann, tat sich eine neue Option auf: Statt Wild begannen die Männer, andere Männer zu jagen. In diesem Heiligtum, denken wir, inszenierten sie das, was sich heute als «toxische Männlichkeit» bezeichnen liesse.
Die These, dass Sesshaftigkeit, intensive Landwirtschaft und grössere Bevölkerungsdichte immer zu autoritären Systemen führten, wird von manchen Autor:innen bestritten, etwa von David Graeber und David Wengrow in ihrem Buch «Anfänge». Liegen sie falsch?
Nein. Es gab sesshafte Kulturen, die jahrtausendelang egalitär lebten. Ein berühmtes Beispiel ist Çatalhöyük in Anatolien, wo wir von 7500 bis 5700 vor Christus eine riesige Ansiedlung sehen.
… diese fast sozialistischen Wohnblöcke.
Genau. Die direkt aneinandergebauten Häuser sind alle gleich gross, es gibt keine Hinweise auf Hierarchie. Das zeigt: Es ist möglich, wenn eine Gesellschaft Wert auf Gleichheit legt. Nur ist es so, dass solche Gesellschaftsformen fast nirgends überdauert haben und von Staaten mit enormer Ungleichheit abgelöst wurden. Trotzdem: Menschen, die sagen, Ungleichheit sei nicht zwangsläufig, haben recht. Das zeigt sich auch daran, dass anarchistische und sozialistische Ideen nie verschwanden. Ungleichheit ist kulturell bedingt, nicht biologisch. Und Kultur können wir verändern.
Wo würden Sie heute ansetzen?
Ich finde es sehr wichtig, die Demokratie auf die Wirtschaft auszuweiten. Es kann nicht sein, dass manche Menschen 1000- oder 100 000-mal mehr besitzen als andere. Ich kenne auch niemanden, der das in Ordnung findet. Auch Privateigentum ist eine junge Erfindung, die Hand in Hand mit der Herausbildung des Patriarchats ging. Noch heute sind die grossen Vermögen fast ausschliesslich in Männerhand. Staatssozialismus hat nicht funktioniert, aber der Kapitalismus schafft riesige Ungerechtigkeiten. Wir brauchen dringend neue Lösungen.
Wie können wir die Vorteile der Kleingruppe bewahren, obwohl wir heute viel mehr Menschen sind?
Das ist genau die Frage … Den grössten Teil ihrer Geschichte haben Menschen in Gruppen von durchschnittlich 25 bis 30 Personen gelebt. Heute leben viele vereinzelt in Kleinfamilien oder als Paar, kennen kaum die Nachbarn, wechseln ihren Wohnort, wenn sie einen neuen Job suchen. Das entspricht uns aber nicht. Es wäre nötig, die Arbeit mehr zu den Menschen zu bringen statt umgekehrt. Und grössere Strukturen zu schaffen, in denen es zu sozialem Austausch kommt – und zwar zwischen Generationen wie zwischen Menschen verschiedenster Bildung und Herkunft. Denn wir sind eine hypersoziale Art und leiden entsprechend unter der sozialen Vereinsamung. Kein Wunder, dass Depressionen immer mehr zunehmen. Zudem werden die sozialen Defizite ausgebeutet, indem uns Megakonzerne angeblich «soziale» Netzwerke als Ersatzstoffe verkaufen.
Wenn ich mich mit Anthropologie beschäftige, staune ich immer über die langen Zeiträume. Macht es gelassen, zu wissen, dass es schon so lange Menschen gibt?
Ich staune mehr darüber, wie schnell es ging! Es ist etwa acht Millionen Jahre her, seit unsere Vorfahren, aufrecht gehende Affenmenschen, sich von ihren haarigen Verwandten abgespalten haben. Biologisch betrachtet wurden sie in unglaublich kurzer Zeit zu Menschen. Warum haben wir uns so schnell entwickelt? Es war wegen der kulturellen Evolution: Wir konnten Erfindungen machen und weitergeben. Das interagierte mit der biologischen Evolution. Unsere Werkzeuge, unsere Sprache – die Kultur hat unsere Anatomie verändert. Ich bin Teil des Forschungsschwerpunkts «Evolving Language». Das ist unglaublich spannend. Die Linguistik nimmt immer mehr auch die Evolution mit an Bord. Als ich jung war, redeten die Fachgebiete kaum miteinander. Das ist heute viel besser.
Aber einen Graben zwischen Natur- und Geisteswissenschaften gibt es immer noch?
Immer weniger. Es ist nicht mehr wie früher, als die Naturwissenschaftler alle anderen nicht ernst nahmen. Heute begegnet man sich ebenbürtig. In unseren Büchern zeigen Kai Michel und ich ja, zu welch erfrischend neuen Ergebnissen man kommt, wenn Kultur- und Naturwissenschaften zusammenarbeiten.
Haben Sie auch mit Gender Studies zu tun?
Ja, immer wieder, und das «Eva»-Buch hat davon profitiert. Meine Botschaft ist: Habt keine Angst vor der Biologie. Sie ist nicht der Feind. Sie ist einfach da.