Schiene oder Auto?: «Die Mobilitätswende geschieht definitiv zu langsam»

Nr. 34 –

SVP-Verkehrsminister Albert Rösti hat nicht nur eine neue Strategie für die Bahn, sondern will auch die Strassen ausbauen. Wohin steuert die Schweiz? Expertin Anne Greinus ordnet ein.

WOZ: Frau Greinus, mindestens ein Drittel der Schweizer Treibhausgasemissionen stammt aus dem Verkehr. Dennoch haben Bundesrat und Parlament kürzlich milliardenschwere Autobahnausbauprojekte beschlossen. Lässt sich das Ziel «Netto null» bis im Jahr 2050 noch erreichen?

Anne Greinus: Allein dadurch wird das Ziel nicht verunmöglicht. Gewisse Ausbaumassnahmen waren schon länger entschieden, die Grundlagen ausgearbeitet. Nicht alle Strassenprojekte sind per se schlecht – etwa wenn punktuell Nadelöhre entschärft werden.

Aber sechsspurige Autobahnen und Zubringer mitten in die Städte lösen doch keine Probleme, sondern schaffen fatale Anreize.

Ja, das ist wissenschaftlich belegt. Mehr Kapazität steigert die Attraktivität und führt zu Mehrverkehr. Dieser induzierte Verkehr kann die Strasse langfristig wieder überlasten – ein Teufelskreis.

Letzte Woche hat SVP-Verkehrsminister Albert Rösti auch für den Schienenverkehr eine neue Strategie vorgelegt: Erneut soll dieser in den Agglomerationen gestärkt werden, weil dort das grösste Verlagerungspotenzial von der Strasse auf die Schiene bestehe. Ein sinnvoller Fokus?

Es ist richtig, dass man stärker in den öffentlichen Agglomerationsverkehr investiert, anstatt das Hochleistungspendeln zwischen den Städten zu fördern. Es muss nicht alles nur schneller werden, auch die Kapazitäten in den Agglomerationen müssen steigen. Grundsätzlich sollten aber die Ausbaupläne für Strasse und Schiene noch besser aufeinander abgestimmt werden.

Wie zum Beispiel?

Eine Möglichkeit wäre, den Bahninfrastruktur- sowie den Nationalstrassen- und Agglomerationsverkehrsfonds in einem einzigen Infrastrukturfonds zusammenzuführen, um die jeweiligen Ausbaupläne besser koordinieren zu können. Im Moment läuft das eher aneinander vorbei.

Anne Greinus, Verkehrsökonomin
Anne Greinus, Verkehrsökonomin

Verkehrs- und Umweltminister Rösti sagt, dass Strasse und Schiene nicht in Konkurrenz stünden. Dabei ist doch klar, dass sich mit Investitionen lenken lässt, ob die Leute eher Auto oder Zug fahren.

Auto und Zug sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden – jedes Verkehrsmittel kann je nach Zweck und Situation wichtig sein. Wir können nicht bis in jedes abgelegene Dorf eine ÖV-Verbindung anbieten, und in manchen Berufen kommt man schlicht nicht ohne Auto aus. Eine integrierte Planung der Infrastrukturentwicklung wäre aber zukunftsweisend. Da besteht noch sehr viel Potenzial. Wir müssen uns auch fragen: Wie viel Verkehr wollen wir?

Der Bund hat verschiedene Zukunftsszenarien bis 2050 entworfen, sie reichen vom «Weiter so» bis zur «nachhaltigen Gesellschaft». Auf welches Szenario bewegen wir uns zu?

Wenn man sieht, wie ausgelastet die Strassen sind und wie im Luftverkehr die Nachfrage fast auf dem Niveau vor der Covid-Pandemie liegt, dann stimmt das eher pessimistisch. Selbst im sogenannten Basisszenario nimmt der Bund an, dass die Verkehrsleistung bis 2050 steigen wird; verglichen mit 2017 um 11 Prozent im Personen- und um 31 Prozent im Güterverkehr. Darin sind Verschiebungen von der Strasse auf die Schiene eingerechnet. Diese sind allerdings relativ bescheiden – und nun sieht es sogar danach aus, dass wir uns eher auf dem «Weiter so»-Pfad befinden. Die Mobilitätswende geschieht definitiv zu langsam.

Der Bund geht weiterhin davon aus, dass die Menschen mit Lenkungsabgaben dazu gebracht werden können, ihr Verhalten zu ändern. Ein frommer Wunsch: Pro Kopf bleibt die Autodichte enorm hoch.

Trotzdem ist es richtig, dass der Bund mit ambitionierteren Entwicklungen rechnet, namentlich mit steigenden Kilometerkosten, beispielsweise mit CO₂-Aufschlägen. Er rechnet damit, dass die Politik entscheidende Massnahmen trifft, etwa indem externe Kosten des motorisierten Individualverkehrs künftig durch eine höhere Besteuerung vollständig internalisiert werden – also den Verkehrsteilnehmenden verursachergerecht angelastet werden. Es handelt sich um Kosten, die etwa durch Lärm- und Luftverschmutzung, Unfälle, aber auch Klimaschäden entstehen.

Lenkungsabgaben gibt es schon länger, trotzdem konzentriert sich weiterhin alles aufs Auto. Seit Jahren werden viel zu emissionsreiche Wagen importiert – die Bussen, die ihnen dafür auferlegt werden, zahlen die Importeure mit einem Schulterzucken. Wäre es nicht Zeit für Verbote?

Ja, diese Erkenntnis ist nicht neu. In der Schweiz können sich viele Menschen Automobilität auch dann leisten, wenn sie teurer wird. Offenbar ist die Schweiz aber auch reich an Zeit: Selbst wenn sie stundenlang im Stau stehen müssen, wollen viele trotz Alternativen nicht auf ihr Auto verzichten. Immerhin gibt es in vielen Städten gute Entwicklungen: Da werden etwa Parkflächen reduziert und die Frage diskutiert, wie die Verkehrsflächen auf Fussgänger:innen, Velos, ÖV und Autos fair aufzuteilen sind. Das ist ein wichtiger Impuls. Reine Freiwilligkeit wird in der Schweiz nicht zu Verhaltensanpassungen im nötigen Ausmass führen.

Das Land ist derzeit ja nicht einmal bereit, ein Verbrennerverbot einzuführen, wie es die EU ab 2035 plant …

… wobei natürlich gesagt werden muss: Auch elektrisch angetriebene Fahrzeuge verbrauchen Fläche; auch sie sind emissionsreich in der Herstellung und belasten die Umwelt mit Lärm und Reifenabrieb. Wir müssen unsere Autoabhängigkeit und den privaten Autobesitz reduzieren – unabhängig von der Antriebstechnologie.

In der Verkehrsdebatte wird der Flugverkehr schlicht ausgeblendet. Rechnet man dessen tatsächliche Klimaeffekte mit ein, ist der Anteil des Verkehrs an den schweizerischen Emissionen noch sehr viel höher. Was könnte man tun?

Zum einen sind die Konkurrenzangebote zum Flugverkehr viel zu wenig attraktiv. Zugreisen sind verhältnismässig teurer, und die länderübergreifenden Angebote sind oft unzuverlässig und viel zu umständlich zum Buchen. Die Luftfahrt hingegen ist sehr tief besteuert und generell viel zu günstig.

Damit verbunden sind aber genau wie beim Autofahren auch schwierige soziale Herausforderungen: Sollen es sich nur reiche Menschen leisten können? Ein logischer Ansatz wäre doch eine progressive Kerosinsteuer: Wer viel fliegt, muss exponentiell dafür bezahlen.

Oder man könnte ein Punktesystem etablieren, mit dem alle Menschen eine Art CO₂-Mobilitätsbudget erhalten. Da stellen sich natürlich viele praktische Fragen, und auch eine grundsätzliche: Haben wir eigentlich ein grundsätzliches Recht auf günstiges Fliegen?

Anne Greinus leitet bei Infras, dem Forschungs- und Beratungsunternehmen für nachhaltige Entwicklung, das Themenfeld «Verkehr in Zürich».