Kollektives Trauma: Unbeugsam gegen die Morde
Kein empörtes, aber ein empörendes Buch: Christina Clemm verbindet Fallbeispiele aus ihrem Alltag als Anwältin mit Gesellschaftsanalyse.
Es gibt Sätze in diesem Buch, die klingen wie gehämmert, wie gemeisselt. Nichts von dem, was Christina Clemm schreibt, ist wirklich neu, denn wir kennen das alles. Die Zahlen: Jede dritte Frau hat Gewalt erfahren. Die Mythen: Vielleicht sind manche der Opfer doch ein bisschen selbst schuld? Die Verdichtung aber, mit der hier auf 250 Seiten knapp dreissig Jahre Engagement und Berufspraxis zusammengefasst sind, klingt neu und macht das Buch mächtig, genauso wie seine klare, unbeugsame Haltung der Solidarität mit Gewaltopfern. «Das Private ist politisch, die Unantastbarkeit der Zweisamkeit gehört hinterfragt», steht da, oder: «Zum Zuschlagen, Töten, Misshandeln braucht es genau einen.» Oder: «Weshalb ist die Scham der Betroffenen immer noch grösser als die Angst der Täter?»
Gewalt geschieht nicht zufällig
Obwohl sich in den letzten Jahren viel getan hat, was Sensibilität und Aufmerksamkeit und auch die Rechtsprechung betrifft, ändert sich an den Zahlen zu sexualisierter Gewalt wenig. Warum ist das so? Die Botschaft des Buches ist deutlich: Sexualisierte Gewalt geschieht nicht zufällig, sie ist strukturell angelegt in einer auf Geschlechterungleichheit basierenden Gesellschaft.
Clemm geht alle wichtigen Themen durch, sie beschreibt Vorurteile den Opfern gegenüber, Strategien der Täter, Gewaltspiralen. Dabei verbindet sie Fallbeispiele mit Gesellschaftsanalyse, auch das macht ihre Argumentation so stark. Sie hat als Anwältin endlos viele Geschichten gehört von «Kratzern, Bisswunden, Hämatomen und Knochenbrüchen, Zahn- und Hörverlusten, Säure- und Schussverletzungen, Verbrennungen und Stichwunden, Tritten in den Bauch», von Vergewaltigungen und Morden. Gehört hat sie auch die Verharmlosungen, die zu milden Urteile, die ignorante Häme, und erlebt hat sie eine eklatante Unterfinanzierung beim Opferschutz, aber auch bei den Polizeibehörden.
Frauenhass, so schreibt Clemm, sei eine Art «emotionaler Gewohnheit», und je länger man als Leser:in ihrem Buch folgt, desto bedrückender wird die Einsicht, wie tief verankert die Neigung ist, sexualisierte Gewalt als Privatsache abzutun, einfach wegzusehen. Als ginge uns das allerhöchstens indirekt etwas an. Falsch.
«Es gibt ein kollektives Trauma der Gewalt oder Gefährdung aller Frauen. Alle Frauen, alle trans Personen, alle non-binären Menschen kennen sie.» Auch das ist einer dieser Sätze.
Konkrete Vorschläge
Im Grunde ist «Gegen Frauenhass» kein empörtes, sondern ein empörendes Buch. Die Lektüre hinterlässt ein beklemmendes Gefühl, und gleichzeitig öffnet sie etwas. Christina Clemm bleibt nicht bei Anklage und Analyse stehen, immer wieder fügt sie konkrete Vorschläge ein, wie es anders gehen könnte, und sie beendet ihr Buch mit einer fünfseitigen Auflistung von Massnahmen, die Opfern helfen würden.
Denn es muss sich etwas ändern, Geschlecht darf kein Machtfaktor mehr sein. Im Katalog an Forderungen steht auch: «Seid wütend!», «Stört, stört, stört» und: «Feministische Männer, macht endlich mit.»
