US-Gewerkschaften: Endlich wieder Hoffnung

Nr. 38 –

Der Streik in der US-Autoindustrie ist schon jetzt historisch. Die lange Zeit korrupt geführte Gewerkschaft der Autoarbeiter:innen funktioniert heute demokratischer und strebt einen gesellschaftlichen Wandel an.

In den USA spitzen sich die Arbeitskämpfe weiter zu. Seit Ende vergangener Woche streikt die Gewerkschaft United Auto Workers (UAW) gegen die Konzerne General Motors, Ford und Stellantis. Zum ersten Mal in der fast neunzigjährigen Geschichte der UAW werden damit die drei grössten Autohersteller des Landes gleichzeitig bestreikt. Wie historisch dieser Moment ist, erkennt man auch daran, dass die letzte Arbeitsniederlegung bei Ford 45 Jahre zurückliegt.

«In den letzten vierzig Jahren hat sich die Milliardärsklasse alles gegriffen und die anderen zum Kampf um die Reste zurückgelassen», sagte UAW-Präsident Shawn Fain. «Wir sind nicht das Problem. Die Gier der Unternehmen ist das Problem.» In der Tat sind die Profite der «Big Three», wie die drei Branchenriesen genannt werden, allein zwischen 2013 und 2022 um 92 Prozent gestiegen. Zusammen haben sie in diesem Zeitraum 250 Milliarden US-Dollar eingestrichen. Während die Belegschaft inflationsbedingt weniger Geld zur Verfügung hat als vor ein paar Jahren, sind die Gehälter in den Chef:innenetagen in die Höhe geschossen. Die CEO von General Motors, Mary Barra, beispielsweise verdient 34 Prozent mehr als vor vier Jahren. Es sind jährlich 29 Millionen Dollar.

Gebrüll wie beim Football

Die Gewerkschaft hat sich für einen Stand-up-Streik entschieden. Bedeutet: Von den rund 150 000 UAW-Mitgliedern, die bei General Motors, Ford und Stellantis arbeiten, sind erst einmal nur 13 000 Beschäftigte involviert. Präsident Fain gab am Donnerstagabend bekannt, dass ein General-Motors-Werk in Missouri, ein Ford-Werk in Michigan und ein Stellantis-Werk in Ohio den Anfang machen.

Einer der Streikenden in Ohio ist Korbin Friend (32), der seit 2018 bei Stellantis beschäftigt ist. «Wir sassen als Team um einen Tisch und haben die Rede von Fain bei Facebook mit rasenden Herzen verfolgt», so Friend zur WOZ. «Als unser Standort dann aufgerufen wurde, ging ein Gebrüll durch die Fabrik wie bei einem Footballspiel.» Friend ist seither im Dauereinsatz, hat den Streikposten nur für Schlafpausen verlassen. Am Telefon vermittelt er Euphorie: «Es klingt vielleicht kitschig, aber die Leute haben endlich wieder Hoffnung. Man sieht es in ihren Augen», sagt er.

Die Taktik eines Stand-up-Streiks hat den Vorteil, dass es Spielraum zum Eskalieren gibt. Sollten die Verhandlungen bis Freitag nichts ergeben, werden die Fliessbänder an weiteren Standorten stillstehen, wie die Gewerkschaft bereits mitgeteilt hat. Ausserdem leert sich die Streikkasse so langsamer. Die Beteiligten erhalten derzeit 500 Dollar pro Woche. Ein Nachteil könnte dadurch entstehen, dass nicht alle Beschäftigten im selben Boot sitzen, sich so Risse auftun. Ein Gesamtstreik ist laut UAW-Präsident Fain aber noch immer eine Option.

Die Forderungen der Gewerkschaft sind «gewagt», wie Fain selbst sagt. Dazu gehören eine Gehaltserhöhung von 36 Prozent in den kommenden vier Jahren, eine Abschaffung des Zweiklassenlohnsystems, Inflationsausgleichszahlungen, umfassende Rentenverbesserungen, mehr bezahlte Feiertage, stärkerer Kündigungsschutz und eine grundsätzliche Umstellung auf eine Viertagewoche. Insbesondere der letzte Punkt, die Reduzierung der Arbeitszeit, wird sich enorm schwer durchsetzen lassen. Dass die UAW dieses Ziel aber überhaupt verfolgen, deutet auf einen Wandel, der sich in der Gewerkschaftswelt vollziehen könnte. Es scheint nicht nur das Bewusstsein für die Bedürfnisse der Arbeiter:innen zu wachsen, sondern auch dafür, dass insgesamt schlichtweg weniger produziert werden muss, um eine substanzielle Reduktion der CO₂-Emissionen zu erreichen. Allein die Umstellung auf Elektroautos wird nicht reichen. «Wir mobilisieren für ein neues Modell, das die arbeitende Bevölkerung, Klimagerechtigkeit und Menschenrechte über den Profit stellt», schrieb Fain kürzlich in einem Gastbeitrag für den britischen «Guardian». Unterstützt wird die Autogewerkschaft deshalb auch von Klimaorganisationen wie dem Sunrise Movement.

Die drei bestreikten Konzerne haben sich zwar in manchen Punkten bewegt, sind aber immer noch weit von den Forderungen der Gewerkschaft entfernt. So bietet Ford aktuell nur eine Gehaltserhöhung von 20 Prozent an. Bei Stellantis – zu dem unter anderem die Marken Citroën, Peugeot, Jeep und Chrysler gehören – sind es 17,5 Prozent. Sowohl Ford als auch General Motors haben als Reaktion auf den Streik sogar Entlassungen angekündigt. UAW-Präsident Fain versprach, dass sich die Gewerkschaft um die Entlassenen kümmern und so lange weitermachen werde, bis die Konzerne zum Nachgeben gezwungen seien.

Angebot im Mülleimer

Der 54-jährige Shawn Fain ist der wohl unerschrockenste Gewerkschaftschef, den das Land derzeit hat. Als die Verhandlungen im Juli begannen, verweigerte er sich dem üblichen Fototermin, bei dem sich Gewerkschaftspräsident und Konzern-CEOs die Hände schütteln. In einem Video Anfang September nahm er den Mülleimer neben seinem Schreibtisch in die Hand und versenkte darin das Vertragsangebot der Autohersteller. Anderen Figuren in der Gewerkschaftswelt könnte man billige PR-Stunts vorwerfen. Bei Fain decken sich die Aktionen mit dem Rest seines Handelns. Er ist zwar erst seit März dieses Jahres Präsident, setzt sich aber seit über zwanzig Jahren für eine Demokratisierung der lange Zeit korrupt geführten Gewerkschaft ein. Zum ersten Mal in Jahrzehnten haben die United Auto Workers einen Präsidenten, der glaubwürdig im Namen der Arbeiter:innenklasse kämpft.

Auch zur Wahlpolitik nimmt er Stellung. Eine zweite Amtszeit Donald Trumps wäre ein «Desaster», sagt Fain. Als der Expräsident diese Woche eine Reise nach Detroit ankündigte, um dort vor Autoarbeiter:innen zu sprechen, antworte Fain, dass sich die Gewerkschaft «mit jeder Faser» gegen ein Wirtschaftssystem wehre, das «Leute wie Donald Trump auf Kosten der Arbeitnehmer» bereichere. Von der Biden-Regierung wiederum müsse laut Fain mehr kommen, damit die Gewerkschaft ihn offiziell unterstütze.

Wie erklärt sich die neue Militanz? Zum einen haben sich durch Pandemie und Inflation die ökonomischen Zustände für die Beschäftigten in den USA zugespitzt. Viele haben ihre Arbeitsbedingungen satt. Aufgrund der derzeit niedrigen Arbeitslosenrate ist es ausserdem leichter, die Unternehmen unter Druck zu setzen. Die vielen neuen Gewerkschaftsgründungen und Streiks in anderen Branchen machen zudem Mut.

Der Wandel bei den UAW ist aber vor allem dem Druck einer Fraktion innerhalb der Gewerkschaft zu verdanken, die sich Unite All Workers for Democracy (UAWD) nennt. Die 2019 gegründete Gruppe setzte zunächst eine Änderung der Gewerkschaftsstatuten durch, sodass alle Mitglieder die Führung direkt wählen können. Durch intensives Organizing sorgten sie anschliessend dafür, dass ihr Kandidat Fain im März dieses Jahres die Wahl gewann. Die seither herrschende Aufbruchstimmung hat sich nun in den Streik übersetzt.