Gewerkschaftsbewegung in den USA: Eine neue Ära der Militanz

Nr. 17 –

Nach Jahrzehnten des Niedergangs formiert sich die US-Arbeiter:innenbewegung zu neuer Schlagkraft. Beschäftigte des Paketlieferdiensts UPS bereiten sich auf den womöglich grössten Streik seit langem vor – so auch in Brooklyn.

ein Fahrer von United Parcel Service (UPS) am Steuer eines Lieferfahrzeugs
Gehaltserhöhung für alle, Verbot von Überwachungskameras in den Fahrzeugen, besserer Arbeitsschutz: Das und mehr fordert die Gewerkschaft Teamsters vom United Parcel Service (UPS).

Eine Masse brauner Uniformen, viele müde Augen. Rund achtzig Menschen haben sich an einer etwas trostlosen Ecke in Canarsie, einem Industrieviertel im Südosten des New Yorker Stadtbezirks Brooklyn, versammelt. Punkt 8 Uhr ein lauter Pfiff. Um Vincent Perrone bildet sich ein Kreis.

«Guys and girls», sagt er, «ich möchte allen hier eine Frage stellen: Wer hat die Macht?»

«Wir haben die Macht», rufen einige zurück.

«Und warum haben wir die Macht?», fragt Perrone weiter.

Gar nicht so einfach, wie man an ihrem Gesichtsausdruck erkennt. «Weil wir in der Mehrheit sind», sagt ein Mann nach kurzer Pause. Perrone nickt.

«Euer Boss bespitzelt uns gerade von seinem Fenster aus, weil er sich Sorgen macht, was hier vor sich geht», sagt er und zeigt auf das lang gezogene Gebäude auf der anderen Strassenseite, ein Center des Paketlieferdiensts United Parcel Service (UPS). Dort drüben, in der zweiten Etage, wo die Büros des Managements sind, da sitzen die Gegner, wie Perrone immer wieder betont. Es ist allerdings das letzte Mal in seiner Ansprache, dass er sie als «Bosse» bezeichnet. Ab jetzt hagelt es nur noch Beleidigungen.

Der 58-jährige Perrone ist Präsident des Ortsverbands Local 804 der International Brotherhood of Teamsters – mit 1,3 Millionen Mitgliedern eine der grössten Gewerkschaften in den USA. Er vertritt über 8000 UPS-Mitarbeiter:innen in New York, eine mächtige Position also. Als Perrone, der bis vor fünf Jahren selbst noch Fahrer bei UPS war, 2018 zur Gewerkschaftswahl antrat, versprach er einen Neuanfang: weg von der Kultur der Vetternwirtschaft und Selbstbereicherung, die bei den Teamsters so lange herrschte; hin zu einer Gewerkschaft, die sich mit aller nötigen Militanz für die Arbeiter:innen einsetzt. Perrone will den Klassenkampf zurückbringen, zumindest ein bisschen. Doch davon sind noch nicht alle überzeugt.

Vincent Perrone, Präsident des lokalen Verbands der Gewerkschaft spricht zu UPS-Beschäftigten
«Euer Boss bespitzelt uns gerade von seinem Fenster aus, weil er sich Sorgen macht, was hier vor sich geht»: Vincent Perrone, Präsident des lokalen Verbands der Gewerkschaft.

«Warum sind wir hier?», will eine junge Schwarze Frau mit orangefarbenem Cap wissen. Sie wirkt skeptisch, wie einige der Anwesenden, die von der Gewerkschaft zu oft enttäuscht wurden. Die meisten von ihnen arbeiten als Fahrer, manche als Beladerinnen der Trucks. Gleich müssen sie rüber zum UPS-Gebäude, dann beginnt ihre Schicht.

Perrone erklärt, dass Ende Juli der seit 2018 gültige Vertrag zwischen Teamsters und UPS auslaufen wird. Die Verhandlungen für einen neuen Vertrag seien im Gang. Zu den Kernforderungen der Gewerkschaft gehören eine Gehaltserhöhung für alle Beschäftigten, ein Ende des Zweiklassensystems von Festangestellten und Teilzeitkräften, mehr Krankengeld, zwei weitere bezahlte Feiertage, ein Verbot von Überwachungskameras in den Fahrzeugen sowie ein besserer Arbeitsschutz. «Wir wollen den Anteil, der euch zusteht», sagt Perrone und verweist auf den Rekordumsatz von rund hundert Milliarden US-Dollar, den UPS 2022 gemacht hat.

Dann erinnert er an die Anfänge der Pandemie, als den Paketzusteller:innen das Prädikat «essential» verpasst wurde: systemrelevant. «Sie haben euch gesagt, dass ihr die Wirtschaft am Laufen haltet», sagt er, und – nun ja: In diesem Sommer könnte es tatsächlich dazu kommen, dass «die Wirtschaft dieses Landes stillsteht». Es ist keine leere Drohung, die Perrone ausspricht. Es ist der Plan, der seit Monaten intensiv vorbereitet wird. Und der Grund, warum derzeit Versammlungen wie diese an vielen Orten der USA stattfinden. Sollte UPS den Forderungen der Teamsters nicht nachkommen, will die Gewerkschaft ihre 350 000 UPS-Mitglieder zur Arbeitsniederlegung aufrufen. Damit könnte es zum grössten Streik kommen, den das Land im 21. Jahrhundert erlebt hat.

Aufstände im Do-it-yourself-Modus

Es gab einmal eine Zeit, da waren Gewerkschaften in den USA eine Macht. Lang ist es her, seit der New-Deal-Ära, als man den Einfluss sozialistischer und kommunistischer Bewegungen noch spürte, grosse Streiks zur Tagesordnung gehörten und 35 Prozent aller Beschäftigten gewerkschaftlich vertreten waren. Mitte der fünfziger Jahre wurde dieser Höchststand erreicht, ab da ging es langsam bergab. Die Marker dieses Niedergangs sind bekannt, vom «Red Scare», der antikommunistischen Panik in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, über die Umbrüche der deindustrialisierten Arbeitswelt bis zur systematischen Niederschlagung betrieblicher Organisierungsversuche, was man in den USA «Union Busting» nennt. Nach Jahrzehnten der neoliberalen Regierung – und auch viel Versagen aufseiten der Linken und Gewerkschaften – sind heute nur noch zehn Prozent aller Beschäftigten in den USA Mitglied einer Gewerkschaft: ein historisches Tief.

Die US-amerikanische Arbeiter:innenbewegung ist am Boden. Doch seit einigen Jahren kann man zunehmend viele Zuckungen wahrnehmen, manchmal sogar richtige Tritte und Schläge nach oben. Bei Amazon, Starbucks, Google und vielen anderen Konzernen haben sich erstmals überhaupt Gewerkschaften formiert. Auch die Zahl der Streiks ist zuletzt gestiegen, vor allem im Gesundheitsbereich und in der Bildung. Es gibt neue Einrichtungen wie das Emergency Workplace Organizing Committee, bei denen Beschäftigte Starthilfe für ihre Arbeitskämpfe erhalten, und neue Medien wie «More Perfect Union», die detailliert aus der Gewerkschaftswelt berichten.

Versammlung der Gewerkschaft Teamsters vom United Parcel Service (UPS) im New Yorker Stadtbezirk Brooklyn
«Warum sind wir hier?»: Mit ihrer Skepsis ist die junge Arbeiterin nicht allein – zu sehr sind viele Beschäftigte in der Vergangenheit von den alten Gewerkschaftsapparaten enttäuscht worden.

Die Pandemie war eine Art Weckruf, wie der «Labor Notes»-Journalist Luis Feliz Leon erklärt: Viele Arbeiter:innen spürten nicht nur in ihren Knochen, dass sie mehr verdienen, «sie fordern auch mehr», sagt er. Grundsätzlich kann man festhalten, dass in der US-Bevölkerung das Verlangen nach ökonomischer Demokratie wächst. Laut aktuellen Umfragen sagen rund siebzig Prozent der US-Amerikaner:innen, dass sie Gewerkschaften grundsätzlich unterstützen – eine vergleichbar hohe Zustimmung gab es zuletzt in den sechziger Jahren.

Viele der aktuellen Arbeitskämpfe laufen im Do-it-yourself-Modus. Gerade weil die etablierten Gewerkschaften in den vergangenen Jahrzehnten so zahnlos waren, die Apparate so verkrustet und die Bedingungen so feindlich sind, haben sich viele Organisationen von Grund auf neu geformt. Junge Graswurzelgewerkschaften sind agiler und konfrontativer als die alten Apparate, zum Teil aber auch chaotischer und kopfloser. Die fehlende Grösse und die mangelnde Erfahrung sind zugleich befreiend und beschwerend. Bestes Beispiel ist die Amazon Labor Union (ALU), von den zwei Amazon-Arbeitern Chris Smalls und Derrick Palmer im April 2021 gegründet. Der ALU gelang es trotz extremer Gegenwehr vonseiten Amazons, die Mehrheit der Beschäftigten eines Warenlagers im New Yorker Stadtbezirk Staten Island davon zu überzeugen, dass eine Gewerkschaft bessere Bezahlung und sicherere Arbeitsbedingungen erreichen kann. Der Abstimmungserfolg im April 2022 war historisch, weil es in den USA bis dahin keinen einzigen Amazon-Standort mit gewerkschaftlicher Vertretung gab.

Heute allerdings, wieder ein Jahr später, ist von der Euphorie nicht mehr viel übrig. Die ALU ist von einem Tarifvertrag weit entfernt, was in den USA zwar normal ist, wenn sich neue Gewerkschaften bilden, und primär daran liegt, dass Amazon den Präzedenzfall weiter um jeden Preis verhindern will. Der Frust bei den Beschäftigten und ALU-Mitgliedern über die Stagnation ist jedoch gestiegen. Die «New York Times» berichtete kürzlich über Konflikte innerhalb der Gruppe. Gründer Smalls wird vorgeworfen, Egotrips zu fahren und beratungsresistent zu sein. Auf das Angebot der Teamsters, bei der Amazon-Organisierung zu helfen, habe die ALU nicht mal reagiert, sagt Perrone. Die ALU hat seit dem Erfolg in Staten Island zudem bittere Niederlagen erlitten: In zwei Warenlagern sprach sich die Mehrheit der Belegschaft gegen eine gewerkschaftliche Vertretung aus.

So bahnbrechend und inspirierend ihr Aufstieg war, so deutlich stösst die Organisation nun an ihre Grenzen. Eine strukturelle Erschöpfung spüren derzeit auch die Mitglieder von Starbucks Workers United, die zwar seit Dezember 2021 phänomenale 300 Standorte der Kaffeekette gewerkschaftlich organisiert, aber ebenfalls noch keinen Tarifvertrag erreicht haben. Die zwei derzeit prominentesten Graswurzelgewerkschaften der USA haben das gleiche Problem: Es fehlt an Ressourcen und Druckmitteln gegenüber den Unternehmen. Diese werden von der Politik nämlich kaum daran gehindert, die gewerkschaftliche Organisierung zu unterdrücken. Die Behörde, die die zahlreichen Verstösse von Amazon und Starbucks gegen das Arbeitsrecht verfolgen soll, das National Labor Relations Board, ist dramatisch unterbesetzt. Im Kongress verhindern die Republikaner:innen derweil, dass neue Gesetze zum Arbeitsschutz erlassen werden.

Was also tun? Einerseits ist da all die Energie von unten, der zerstreute Frust über das ökonomische System, das Potenzial der jungen, neuen Linken. Und andererseits sind die politischen Bedingungen für kollektive Organisierung so katastrophal, dass die Energie zu verpuffen droht, wenn nicht bald substanzielle Erfolge errungen werden. An genau dieser Stelle kommen die etablierten Gewerkschaften ins Spiel, Teamsters ganz vorne. Sie haben nämlich genau das, was den Graswurzelkollektiven fehlt: Grösse und nötige Infrastrukturen für einen Massenstreik.

«Wer meckert, muss auch mitmachen»

Vincent Perrone trägt Sonnenbrille, trotz Wolkendecke über Brooklyn. Ein stämmiger Mann mit kurzen, grausilbernen Haaren – auf den ersten Blick könnte er, wie er da so breitbeinig steht und virtuos flucht, eine Figur aus Martin Scorseses «The Irishman» sein. Der episch lange Blockbuster erzählt von den Verflechtungen zwischen Teamsters und Mafia, insbesondere vom berüchtigten Gewerkschaftschef Jimmy Hoffa, der zwischen 1957 und 1971 mit Gangstermethoden herrschte und den Teamsters einen Ruf verpasste, der ihnen bis heute nachhängt. «Wie die Reichen und Mächtigen in den letzten Tagen des Römischen Reiches oder der ehemaligen UdSSR wurden auch die letzten Herrscher der Teamsters im Lauf der Zeit immer dümmer und korrupter», schreibt der ehemalige UPS-Fahrer Joe Allen in seinem Buch «The Package King» über Hoffa und dessen Nachfolger.

«Die Zeiten haben sich geändert», sagt Perrone an diesem Morgen zu den UPS-Arbeiter:innen. «Ihr müsst uns vertrauen, auch wenn das hart ist.» Er bezieht sich damit aber weniger auf die Mafiosijahre des 20. Jahrhunderts, sondern mehr auf die Zeit von 1998 bis 2022, als Hoffas Sohn James an der Spitze der Gewerkschaft stand: kein korrupter Autokrat wie sein Vater, aber ein konservativer Bürokrat, der zu oft die Interessen der Beschäftigten verriet. Bei den letzten Verhandlungen mit UPS im Jahr 2018 setzte er gegen den Willen der Mitgliedermehrheit einen Vertrag voller Eingeständnisse durch.

Seit März 2022 ist Sean O’Brien Präsident der Teamsters – auf ihm liegen die Hoffnungen der Linken. In einer inzwischen legendären Rede bei der «Labor Notes»-Konferenz im Sommer 2022 versprach der 51-Jährige, «das Syndikat der Wirtschaftskriminalität, bekannt als Corporate America», zu bekämpfen. Mit Aussicht auf einen möglichen UPS-Streik kündigte er an, «das Unternehmen in die Knie zu zwingen». Spätestens in diesem Moment wurde allen klar, dass bei der Gewerkschaft ein neues Zeitalter der Militanz angebrochen ist. Auch die Mitgliederzahl ist seither rasant gewachsen.

Warum die Militanz nötig ist, erklärt Perrone anhand seiner eigenen Erfahrungen bei UPS. 1994 fing er dort als Fahrer an und machte sich schnell beim Management unbeliebt, indem er sich lautstark für die Rechte der Beschäftigten einsetzte. 1997 nahm er am bis dato letzten UPS-Streik teil, der fünfzehn Tage andauerte, das Unternehmen 620 Millionen Dollar kostete und den Arbeiter:innen signifikante Gehaltserhöhungen brachte.

2014 riss sich Perrone beim Heben eines Pakets einen Schultermuskel. Drei Jahre später fiel im Laderaum seines Lasters ein schweres Paket auf sein Knie. Perrone musste pausieren und wurde kurz darauf gefeuert, wie er sagt: «Wenn sie dich durch eine Sackkarre ersetzen könnten, würden sie es sofort machen.» Besonders im Sommer sei die Arbeit bei UPS extrem erschöpfend. Im vergangenen Juni starb ein 24-jähriger Fahrer in Kalifornien an einem Hitzeschlag. Auch deshalb fordern die Teamsters Klimaanlagen für alle Fahrzeuge.

Jacke der Gewerkschaft Teamsters mit Stickereien des Gewerkschaft-Logos
Teamsters: Mit 1,3 Millionen Mitgliedern eine der grössten US-Gewerkschaften.

Perrone geht einen Schritt vor, einen zurück. Man spürt, dass er eine Balance versucht: Er will bei den Leuten, die da um ihn herumstehen, Vertrauen aufbauen – und sie zugleich in die Pflicht nehmen. «Wer meckert, muss auch mitmachen», sagt er und fragt in die Runde, wer schon einen Streikfonds eingerichtet habe, also Geld spare, damit man bei einer Arbeitsniederlegung über die Runden komme. Fünf Hände gehen hoch. «Nicht genug!», sagt Perrone. Finanzielle Unterstützung gebe es von der Gewerkschaft dieses Mal von Tag eins an, verspricht er. Und besonders hart werde man für die Teilzeitkräfte kämpfen. Diese verdienen in New York nämlich nur mickrige 15,50 Dollar pro Stunde.

Als Perrone an seinen Vize Chris Williamson übergibt, braucht dieser nur ein paar Sätze, um sich in Rage zu reden. «Tut mir einen Gefallen», ruft er, «nehmt euren Frust und tragt ihn zu den Bastarden da drüben!» Williamson, der lange selbst Teilzeitarbeiter bei UPS war, schreit und flucht und spuckt. Spätestens jetzt sind sie hier alle wach.

Näher zur neuen Linken

Die Teamsters sind nicht das einzige Gewerkschaftsschiff, das sich nach links bewegt. Auch bei den United Auto Workers (UAW) haben die Mitglieder kürzlich eine neue Spitze bestimmt, die einen deutlichen Bruch mit der alten – und schwer korrupten – Politik bedeutet. Bei der Mitgliederversammlung in Detroit im März machte der frisch gewählte Präsident Shawn Fain klar, was auf Firmen wie Ford, General Motors und Stellantis zukommt: «Wir sind hier, um gemeinsam gegen unseren einzig wahren Feind zu kämpfen – die milliardenschweren Konzerne und Arbeitgeber, die sich weigern, unseren Mitgliedern ihren gerechten Anteil zu geben.»

Wie bei den Teamsters ist der Wandel bei den UAW nicht über Nacht gekommen. Innerhalb beider Gewerkschaften haben Reformgruppen über lange Zeit durch intensive Organisierung den Grundstein dafür gelegt. Immer wichtiger ist dabei eine Praxis geworden, die lange vergessen schien: Mehr und mehr suchen sich derzeit linke Aktivist:innen Jobs in bestimmten Branchen, um dort gezielt die politische Organisierung voranzutreiben. «Salting» nennt sich das in Fällen, wo es noch gar keine Gewerkschaft gibt; «Industrializing», wenn eine bestehende Gewerkschaft von innen radikalisiert werden soll.

Beides wurde in diesem Ausmass zuletzt in den siebziger Jahren versucht. Insbesondere die Erfolge der neuen Starbucks-Gewerkschaft gehen genau darauf zurück, wie das Magazin «Bloomberg Businessweek» kürzlich berichtete. Mindestens zehn Undercoveraktivist:innen hätten demnach bei Starbucks-Filialen in Buffalo (New York) einen Job gesucht, um beim Organizing zu helfen. Im Herbst 2021 stimmte dort der allererste Standort in den USA für eine Gewerkschaft als ihre Vertretung ab.

ein Mitglied der Gewerkschaft Teamsters füllt einen Anmeldetalon zum Streik aus
Vorbereitung auf den grossen Streik: Die Mobilisierung läuft auf Hochtouren.

Salting und Industrializing sind auch deshalb so wichtig, weil sie auf ein grundlegendes Problem reagieren: die Distanz zwischen der neuen Linken und der alten Gewerkschaftswelt. Bereits seit einigen Jahren rufen die Democratic Socialists of America aus diesem Grund ihre Mitglieder – überwiegend junge Grossstadtmenschen mit Uniabschluss – dazu auf, entsprechende Jobs anzutreten. Aktivist:innen sollen sich fern ihrer Bubbles nützlich machen und bei den zentralen Arbeitskämpfen mitwirken. Ein eigenes Training zum effektiven Salting bietet die in Maryland ansässige Inside Organizer School an. Mehrmals im Jahr kommen hier erfahrene und lernende Gewerkschaftsaktivist:innen zusammen, um Strategien zu besprechen. Laut Perrone spielt das Thema auch bei den Teamsters eine immer stärkere Rolle. Im Detail wollen allerdings die wenigsten darüber sprechen. Sie wissen, dass die Unternehmen diese Praktiken besonders repressiv verfolgen.

Die exzessiven Repressionen bleiben die grösste Herausforderung, vor denen die US-Arbeiter:innenbewegung steht. Insbesondere neue Gewerkschaften müssten einen «Spagat zwischen Community-Aufbau und Geheimhaltung» hinlegen, sagt Organizerin Maeg Yosef, die für den Lebensmittelhändler Trader Joe’s in der Kleinstadt Hadley in Massachusetts arbeitet.

Yosef gehörte Anfang 2022 zu einem kleinen Kreis von Angestellten, die den Plan einer gewerkschaftlichen Vertretung schmiedeten. Für die Gruppe galt es einerseits, über so viele persönliche Gespräche wie möglich Vertrauen unter Kolleg:innen aufzubauen – andererseits mussten sie penibel darauf achten, dem Unternehmen so wenig Angriffsfläche wie möglich zu geben. Der Spagat gelang. Im Juli 2022 stimmte die Belegschaft in Hadley für eine gewerkschaftliche Vertretung ihrer Interessen – als erster Standort von Trader Joe’s in den USA überhaupt. Trader Joe’s United hat seither Filialen in verschiedenen Bundesstaaten erfolgreich organisiert.

Während überall neue Gewerkschaften spriessen, steht in diesem Sommer jedoch im Mittelpunkt, was bei den Teamsters passiert. Sollte UPS auf die Forderungen eingehen, hätte die Gewerkschaft ihre Macht demonstriert. Sollte es zum Streik kommen, wäre das ein noch grösseres Fanal. Ziel sei es in jedem Fall, wie Teamsters-Präsident Sean O’Brien angekündigt hat, mit einem starken Vertrag ein branchenübergreifendes Zeichen zu setzen. Insbesondere den über eine Million Beschäftigten von Amazon solle gezeigt werden, «was man bekommt, wenn man der besten Organisation der Welt beitritt».

Grosse Worte, denen nun Taten folgen müssen. Je mehr die Teamsters in diesem Sommer rausholen, desto stärker ist ihre grundsätzliche Position. Und damit auch ihre Glaubwürdigkeit gegenüber jungen Graswurzelgewerkschaften wie der Amazon Labor Union. Treiben sie dann auch noch die Demokratisierung der eigenen Strukturen weiter voran, könnten die alte Gewerkschaftswelt und die neue Linke tatsächlich ein wenig zusammenrücken. Das wäre ziemlich viel.