Esoterische Medizin: «Habe ich meinen Tumor also auch ‹gemacht›?»

Nr. 39 –

Eine von der christlichen St. Michaelsvereinigung gegründete Stiftung lockt Krebserkrankte mit pseudowissenschaftlichen Behauptungen in ihr Kurhaus am Bodensee. Ehemalige Patientinnen berichten.

Thurgauer ­Gesundheitszentrum Sokrates
«Indoktrinierungsversuche», «reiner Schrott»: Kommentare von zwei Patientinnen, die vor einigen Wochen zur Kur im Thurgauer ­Gesundheitszentrum Sokrates waren.

Der Blick über den Bodensee ist atemberaubend, selbst an diesem verhangenen Regentag. Das Gesundheitszentrum Sokrates im thurgauischen Güttingen liegt fast direkt am Bodensee, zur Anlage mit Parkgarten gehört ein Badehäuschen mit Steg aufs Wasser.

Geschäftsführer Guido Schaub plaudert kurz mit einer Frau, die es sich auf einer Liege bequem gemacht hat. «Ist Ihnen warm genug?» Dann schliesst er die Terrassentür und führt durch die Räumlichkeiten. Er zeigt die grossen, hellen Privatzimmer, den Raum mit der «Klangwiege», die hauseigene Kapelle, die Physiotherapieräume. Schaub, ein freundlicher Mann in einem leuchtend rosa Hemd, präsentiert das Kurhaus im besten Licht. 97 Prozent der Gäste würden das Zentrum weiterempfehlen, wird er später in seinem Büro sagen und die Auswertung einer Umfrage unter den Gästen vorweisen.

Anna Müller* war hier bis vor einigen Wochen nach einer Krebsbehandlung zur Kur. Sie habe vor allem eines gesucht, erzählt sie bei einem Treffen: «Erholung und Ruhe.» Habe durchschnaufen und ihrem Körper eine Pause gönnen wollen. Doch die erhoffte Erholung findet sie nicht: «Im Gegenteil. Es war sehr anstrengend, sich innerlich von den ganzen Indoktrinierungsversuchen abzugrenzen.»

Falsche Schuldgefühle

Seltsam kommt Müller bereits das Eintrittsgespräch vor. Der leitende Arzt habe sofort von Krebs im Zusammenhang mit Reinkarnation gesprochen. Dies, nachdem sie ihm geschildert habe, dass sie nach ihrer zweiten Krebserkrankung körperlich und psychisch stark belastet sei. «Die Frage, warum dieser Rückfall kam, obwohl ich doch so gesund und bewusst wie möglich gelebt hatte, hat mich stark beschäftigt», sagt Müller. Sie habe Schuldgefühle gehabt. «Ich hoffte, in der Klinik von diesen Gefühlen entlastet zu werden. Stattdessen tut das Zentrum alles, um solche Gefühle zu nähren.»

Gleich nach dem Zimmerbezug erhält Müller einen iPod, unter anderem mit «Heilsmeditationen» und einem Vortrag des Pseudowissenschaftlers Robert Betz mit dem Titel «Jede Krankheit hat eine Ursache». Obwohl sie bereits da ein mulmiges Gefühl hat, nimmt sie sich vor, in der ersten Woche jedes Angebot auszuprobieren. Musiktherapie, Morgeneinstimmung, Spaziergang mit Alpakas. Doch bei fast all dem habe mitgeschwungen, «dass man irgendwie selbst schuld ist an seiner Krankheit», sagt Müller.

Am deutlichsten wird das während eines «Gesundheitstrainings»: «Der leitende Arzt zeigte uns Youtube-Videos des japanischen Parawissenschaftlers Masaru Emoto.» Emoto, ein Star der Esoterikszene, wurde in den neunziger Jahren mit der Behauptung berühmt, Worte und Gedanken würden sich auf Wasser übertragen und dieses verformen. Müller erzählt: «Der Arzt sagte dann, dasselbe gelte für unsere Zellen. Auch diese würden von unseren Gedanken beeinflusst.»

Daraufhin habe der Arzt Filmausschnitte mit Fallgeschichten gezeigt. «Er sprach davon, dass Patient:innen ihre Krankheit ‹machten›. Einer zum Beispiel habe wegen Stress eine Nierenkolik ‹gemacht›, ein anderer wegen falscher Lebensführung ein Magengeschwür. Ich habe den Arzt dann gefragt: ‹Dann habe ich meinen Tumor also auch ,gemacht’?› Er antwortete schlicht mit Ja.»

Das habe sie umgehauen, sagt Müller. Sie habe die Veranstaltung fluchtartig verlassen und zuerst einmal geweint. «Man kann mich jetzt natürlich fragen, warum ich nicht heimgefahren bin. Doch dafür war ich wohl schlicht zu geschwächt.» Müller zieht sich stattdessen zurück, schwimmt viel im See und geht nur noch in Therapien, bei denen sie sich wohlfühlt, Physio- und Kunsttherapie.

Teil einer sektenartigen Bewegung

Wieder zu Hause, recherchiert sie. Und findet heraus: Das Gesundheitszentrum gehört zur St. Michaelsvereinigung, einer christlich-esoterischen Gruppierung, die im Nachbardorf Dozwil beheimatet ist. Die Vereinigung machte Ende der achtziger Jahre Schlagzeilen, als es in Dozwil nach Weltuntergangsprophezeiungen von Paul Kuhn, des Gründers der Vereinigung, zu Tumulten kam: Kuhn hatte auf den Muttertag 1988 ein Ufo angekündigt, das seine Kirchenmitglieder abholen würde. Es kamen stattdessen betrunkene Schaulustige und Reporter:innen. Bis heute betreibt die Vereinigung in Dozwil eine «Kirche», in der jeden Sonntag Gottesdienste stattfinden.

1998 gründet die Vereinigung die Stiftung Sokrates für Bildung und Erziehung. Der Stiftungszweck: «Planung und Bau einer neuen christlichen Klinik für Patienten mit schweren Krankheiten, Förderung der Naturmedizin durch Forschung und Entwicklung». 1999 erwirbt die Stiftung, die auch die Pestalozzi-Schule in Sulgen betreibt, das Seegrundstück in Güttingen. 2002 eröffnet sie zunächst ein Ambulatorium mit Homöopathie- und Musiktherapiepraxis. All das dokumentiert die Vereinigung auf ihrer Website.

Doch auf der Seite des Gesundheitszentrums Sokrates bleibt jeder Zusammenhang mit dem Kult unerwähnt. Weil man nicht zur St. Michaelsvereinigung gehöre, sagt Schaub in seinem Büro. Das Gesundheitszentrum sei schliesslich eine Aktiengesellschaft, hauptsächlich im Besitz der Sokrates-Stiftung, ja. Und richtig, in diese habe die St. Michaelsvereinigung praktisch ihr ganzes Geld gesteckt. «Doch wie gesagt, wir sind eine unabhängige AG.» Den Unabhängigkeitsbeteuerungen zum Trotz: Schaub ist selbst Mitglied der St. Michaelsvereinigung, ebenso die beiden anderen Mitglieder der Geschäftsleitung sowie Christoph L. Hofer, der leitende Arzt.

Die Erlebnisse von Anna Müller versucht Schaub gar nicht zu widerlegen – im Gegenteil. Man wolle ja genau in die «christlich-ganzheitliche» Nische. Schaub scheint ehrlich überzeugt vom Konzept des Zentrums. Man stütze sich auf den indischen Homöopathen Mohinder Singh Jus, sagt er und überreicht einen Ausdruck mit dessen Leitsatz: «Die Krankheit ist lediglich ein Widerschein der ins Ungleichgewicht geratenen Lebenskraft.» Masaru Emoto? Der sei sicher kein Esoteriker, sondern jemand, der sich wie viele «hochseriöse» Wissenschafter mit dem Einfluss des Geistes auf den Körper befasst habe. Schaub hat das Gästebuch mitgebracht. Darin: viele Zeichnungen und warme Worte. Jemand hat ein Mandala gezeichnet und dazu geschrieben: «Liebe sein», «Kraft und Energie», «Hier und jetzt». Manche spirituell bis esoterisch geprägten Gäste finden im Kurhaus wohl genau, was sie suchen.

Doch wann wird Esoterik für Patient:innen zur Gefahr? Im Gesundheitszentrum Sokrates, das auch Burn-outs, Tinnitus oder andere chronische Krankheiten behandelt, sind nach eigenen Angaben etwa ein Viertel der Gäste Krebsbetroffene. Die meisten kommen laut Schaub für eine Kur nach der Akuterkrankung. Doch das Zentrum bietet auch «komplementäre onkologische Therapien» an, «falls Sie für den Moment eine konventionelle schulmedizinische Therapie ablehnen oder sich […] durch integrative Medizin begleiten und stärken lassen möchten».

Müller sagt, im Nachhinein lese sie den Text auf der Website des Zentrums, das dort eine «Ganzheitsmedizin der Zukunft» propagiert und auch das «christliche Menschenbild» erwähnt, ganz anders. Unmittelbar nach der Chemotherapie habe sie das integrativ anmutende Konzept angesprochen. «Und mich zog auch schlicht die tolle Lage an.» Claudia Mäder*, ein «Kurgspänli» von Müller, sagt am Telefon: «Ich wollte einfach raus aus der Hitze der Stadt ans Wasser.» Mäder, ebenfalls eine Krebspatientin, war mit Müller in besagtem Gruppentraining: «Reiner Schrott» sei das gewesen.

Aufgrund fehlender Pflegeleistungen steht das Gesundheitszentrum nicht auf der kantonalen Spitalliste, weshalb die Grundversicherung keine Aufenthaltskosten übernimmt. Doch viele Zusatzversicherungen, so auch diejenigen von Müller und Mäder, zahlen Tagespauschalen. Ambulante ärztliche Leistungen darf das sektennahe Unternehmen gar normal über die Krankenkasse abrechnen. Und: Die Einrichtung wird von seriöser Seite beworben. Mäder wie Müller stiessen auf der Website des Verbands Heilbäder und Kurhäuser Schweiz auf das Zentrum, wo dieses komplett unverdächtig daherkommt. Die Betreiberin der Website sagt auf Anfrage: Für Kurhäuser würden andere Kriterien gelten als für spitalähnliche Rehakliniken. Das Gesundheitszentrum Sokrates erfülle sie, weil es mit qualifiizierten Fachkräften zusammenarbeite.

Auch auf der Seite der Krebsliga Schweiz wird das Zentrum unter den ambulanten Angeboten aufgeführt. Auf Nachfrage sagt Anna Zahno, die Leiterin des Krebstelefons der Organisation: «Sollte sich bestätigen, dass das Sokrates Krebsbetroffenen auf pseudowissenschaftlichen Grundlagen erzählt, dass sie die Krankheit mit verändertem Bewusstsein besiegen können, fänden wir das sehr bedenklich.» Gerade bei Krebspatient:innen sei das hochproblematisch. «Viele haben ohnehin schon falsche Schuldgefühle. Sie darin zu bestärken, widerspricht komplett unserer Haltung.»

Ausbau im ambulanten Bereich

Das Gesundheitszentrum Sokrates betont, integrativ zu arbeiten. Das jedoch scheint fragwürdig: Zwar hat Christoph L. Hofer, der leitende Arzt, der das besagte Gesundheitstraining durchführte, einen Facharzttitel Innere Medizin. Doch ist er geprägt von seiner homöopathischen Weiterbildung. In seiner schriftlichen Stellungnahme bestreitet er Müllers Beschreibungen des von ihm geleiteten «Gesundheitstrainings» nicht: «Im medizinischen Umgangston spricht man oftmals davon, dass ein Patient einen Herzinfarkt, ein Magengeschwür oder einen Hautausschlag ‹macht›. In diesem Sinne habe ich auch diesen Ausdruck benutzt. […] Es gibt eigentlich keine Krankheit ohne seelische Belastungen, abgesehen von Vergiftungen oder externen Schädigungen.» Der Arzt relativiert einzig: «Heilungsversprechen werden nie gemacht, da dies weder für schulmedizinische Therapiemassnahmen möglich ist noch im alternativmedizinischen Bereich.»

Neben Hofer sind im Zentrum zwei weitere Homöopathinnen angestellt. Schaub sagt: Das Gute am ganzheitlichen Ansatz sei, dass man damit sehr viele verschiedene Krankheiten behandeln könne.

Kürzlich hat das Zentrum ausgebaut, von 19 auf 33 Zimmer. Gestärkt werden soll insbesondere der ambulante Bereich. Man wolle mehr Patient:innen über eine Kur hinaus betreuen, sagt Schaub gegen Ende des Treffens. Auf die Frage, ob das Zentrum auch Krebspatient:innen alternativ behandeln würde, denen eine Chemotherapie oder eine Operation angeraten wurde, antwortet er: «Nur wenn sie das so unterschreiben.» Später krebst er schriftlich zurück: Das gelte nur für Palliativpatient:innen. Der behandelnde Arzt lehne selbstverständlich die Aufnahme von Patient:in­nen ab, die eine dringend angeratene Chemotherapie oder OP verweigerten.

* Name geändert.