Auf allen Kanälen: War Freud eine Lesbe?

Nr. 40 –

«Literaturmagazin» klingt verstaubt. Doch das neuste Exemplar der Sorte ist erfrischend gut. Was «Delfi» alles richtig macht.

stilisiertes Logo des Delfi Magazin

Kommt nicht oft vor: Man hat ein Buch auf dem Schreibtisch liegen, und alle, die vorbeischauen und darin blättern, finden auf der Stelle einen Text, den sie unbedingt sofort lesen wollen: Maria Stepanova! Ocean Vuong! Enis Maci! McKenzie Wark!

Was heilig ist, entscheiden alle für sich, heissts passenderweise im Vorwort zu besagtem Band. Und wenn man trotzdem eine Kritik am giftgrün beschrifteten neuen Literaturmagazin «Delfi» formulieren müsste, dann wärs die, dass es unnötig war, dieser ersten Ausgabe das Motto «Tempel» aufzudrücken. Zumal die Herausgeber:innen sich alle Mühe geben, den altertümlichen Titelbegriff gleich auf den ersten Seiten wieder sachgerecht zu zertrümmern. Die versammelten Texte hätten den thematischen Schutzraum gar nicht benötigt, sie sprechen ganz souverän für sich.

Gellhorn in Moskau

Da ist etwa Maria Stepanova mit einer feinen Nachzeichnung des Besuchs von Martha Gellhorn, der US-Kriegsreporterin und Hemingway-Ex, bei der Dichterwitwe Nadeschda Mandelstam in Moskau: ein hintergründiger Text, der Neugierde und Intellekt gleichermassen befriedigt; Metaliteratur auch, die gerade in der Überlagerung von Texten zum realen Kern der Dinge vordringt. Olivia Wenzel wiederum zeigt den Herausgebern des Männlichkeitssammelbands «Oh Boy!» eindrücklich, wie die literarische Verarbeitung einer Gewalterfahrung gehen könnte. Und die US-Bestsellerautorin Lauren Groff («Licht und Zorn») versetzt sich in Gestein und andere Elemente.

Das Adressbuch dieser Herausgeber:innen möchte man haben. Fatma Aydemir, Enrico Ippolito, Miryam Schellbach und Hengameh Yaghoobifarah haben auch erreicht, dass alle Beiträge exklusiv für «Delfi» geschrieben oder zumindest erstmals auf Deutsch übersetzt wurden. Die Aufstellung ist international und divers, ohne dass man das ständig auf die Nase gebunden bekäme. Sinnbildlich dafür die Briefe, die Eva Tepest aus Italien schreibt: Sigmund Freud als einer von fünf Adressat:innen wird darin nicht einfach als Vorgestriger aus dem 19. Jahrhundert zum alten Eisen geworfen, sondern charmant in die Realität von heute verstrickt. Verraten seine «Psychogenese eines Falles von weiblicher Homosexualität» und seine Briefe nicht sein eigenes sexuelles Geheimnis? War Freud eine versteckte Lesbe?

Kein Komplott

Manche Literaturmagazine sind kurzlebig und können trotzdem wichtige Impulse geben; wobei ihre Wirkung zuweilen erst im Rückblick klar wird. Das war schon in den Anfängen so. Friedrich Schillers legendärer Prototyp «Die Horen» etwa, für den Johann Wolfgang von Goethe und Alexander von Humboldt Texte verfassten, erschien nur knapp drei Jahre lang. Das hat aber gut gereicht, um die Weimarer Klassik entscheidend zu formen.

Wer heute, mehr als 200 Jahre nach Schiller, ein neues Printprodukt auf den Markt bringt, darf beinahe als Hasardeur:in gelten. Was in «Delfi» ganz ungerührt kommentiert wird: Print oder Netz, wen kümmerts, im Zentrum stehe «einzig und allein die Vertiefung».

Dabei ist «Delfi» weder ein Schaufenster, in dem der herausgebende Ullstein-Verlag seine Hausautor:innen anpreist, noch ein Sprungbrett für unentdeckte Talente. Und obwohl ausser Schellbach, die als Verlagsleiterin arbeitet, alle Herausgeber:innen von «Delfi» auch selber schreiben, haben sie in dieser Urausgabe keine eigenen Texte untergebracht. Es geht hier um etwas Grösseres als (Selbst-)Promotion: um Literatur. Tatsächlich zeigen gleich mehrere Texte spielend, was Literatur auszeichnet: Sie stellt probehalber Verflechtungen her, ohne Komplott zu sein – und ist so ein ideales Antidot zum grassierenden Denken in Verschwörungstheorien und falschen, grellen Gegensätzen.

Literarische Sprache vermittelt nicht einfach Wissen, sondern legt verwunschene Spuren, strategische Umwege, die neue Verbindungen im Hirn aktivieren: Man lernt, anders zu denken. Und wie auch im Vorwort erklärt wird: Man kann Literatur wie ein Orakel befragen. Wenn also das nächste Mal jemand im Gespräch stolz erklärt, er oder sie lese nur Sachbücher, darf die «Delfi»-Leserin selbstbewusst retournieren: Schade für dich.

«Delfi 01. Magazin für neue Literatur». Ullstein Verlag. Berlin 2023. 153 Seiten. 15 Franken. Für Abos: delfi-mag.com.