Durch den Monat mit Gerhard Pfister (Teil 2): Sind Sie sozialpolitisch sensibler geworden?
Was der Katholik an der Kirche verändern würde und warum ausgerechnet er als Parteipräsident der CVP das C gestrichen hat.

WOZ: Herr Pfister, Sie sind praktizierender Katholik. Erschüttern die Missbrauchsskandale in der katholischen Landeskirche Ihren Glauben?
Gerhard Pfister: Mein Glaube wird herausgefordert, wenn ich mich mit philosophischen Werken auseinandersetze. Erschüttert bin ich durch die Missbrauchsskandale und den Umgang damit in der Kirche. Ich habe immer zwischen den Führungspersönlichkeiten der Kirche und dem Menschen an der Basis unterschieden. Beim Klerus, der für sich eine herausgehobene Stellung reklamiert, habe ich etwas gar viel Selbstgerechtigkeit wahrgenommen. Als ich mich gegen die Konzernverantwortungsinitiative engagierte, stellten mich die Bischöfe in die unchristliche Ecke. In meiner Kirchgemeinde, die ein wichtiger Teil des sozialen Lebens im Dorf ist, leisten viele, vor allem Frauen, grossartige Arbeit. Diese Gemeinschaften leisten Wertvolles für die Gesellschaft.
Wo sehen Sie Reformbedarf?
Die Kirche darf sich nicht mehr als etwas Besonderes sehen. Sie darf keine Parallelgesellschaft sein. Das Recht gilt für sie wie für alle anderen auch. Wenn ich der Kirche etwas zu raten hätte, dann wäre es die Abschaffung der Kirchensteuer in der heutigen Form. Es ist widersprüchlich, dass der Staat als Steuereintreiber für die Landeskirchen wirkt, diese selbst sich aber eigene, nicht staatliche Regeln geben.
Auch der gemässigte Konservatismus ist in einer Krise. In Italien begann die Democrazia Cristiana nach 1989 zu zerfallen, dort regiert mit Giorgia Meloni jetzt eine Faschistin. Was sagen Sie zur Gefahr, dass im Westen zunehmend Rechtsextreme konservative Parteien infizieren?
Zunächst: Diese rechtsradikalen Bewegungen sind nicht konservativ. Das sind rechtsrevolutionäre Bewegungen. Sie wollen die liberale Demokratie und ihre Institutionen niederreissen. Die Polarisierung, das Lagerdenken nimmt zu, die Diskursfähigkeit ab. Das heisst: Die politischen Akteure tauschen kaum mehr Argumente, bis ein tragfähiger Kompromiss gefunden ist, die Geduld für demokratische Prozesse geht verloren. Ausserdem steht das klassische Konzept der Volksparteien, die breite Bevölkerungsschichten integrieren, unter enormem Druck. Diese Entwicklung macht mir Sorgen.
Nach dem Mauerfall machte der neoliberale Mainstream die soziale Frage lächerlich. Wer sie stellte, galt als Figur aus der Vergangenheit.
Die westlichen Eliten feierten bekanntlich nach dem Zusammenbruch des Ostblocks den Triumph des rein marktwirtschaftlichen Prinzips. Auch die Konservativen, die die soziale Marktwirtschaft mitgeprägt hatten, wandten sich dem Neoliberalismus zu. Das rächt sich jetzt. Die Gewinner der Globalisierung unterschätzten zudem, wie wichtig den Menschen Verwurzelung, Heimat und ein sicherer Sozialstaat sind. Auch ich habe diese Entwicklung so nicht kommen sehen.
Sie wurden 2016 Präsident der CVP. In der Rentenfrage haben Sie sich eher nach links orientiert, Ihre Fraktion war sich uneins. Sind Sie sozialpolitisch sensibler geworden?
Die Lösung der Rentenfrage sehe ich pragmatisch. Als Parlament müssen wir Vorlagen gestalten, die an der Urne bestehen können. Das ist nicht bloss eine versicherungsmathematische Aufgabe. Ich habe meine Grundüberzeugungen, auch in meiner Rolle als Parteipräsident muss ich mich deswegen nicht verbiegen. Als Präsident moderiere ich die unterschiedlichen Positionen in unserer Partei, integriere sie und vertrete sie nach aussen, übrigens aus Überzeugung. Anders würde es ja auch nicht funktionieren.
Ausgerechnet Sie als Katholisch-Konservativer haben Anfang 2021 das C aus dem Namen entfernt und die Partei als «Die Mitte» neu gelabelt.
Wahrscheinlich war ich genau deshalb der richtige Mann für diese Öffnung, weil die Basis es mir abnahm, dass ich das nicht leichtfertig mache. Dass wir uns thematisch stärker profilieren müssen, bleibt die Herausforderung. Wenn wir mit klaren Positionen in politische Aushandlungen gehen, erreichen wir auch bessere Lösungen. Das war, ist und bleibt unsere Rolle im politischen Zentrum.
«Mitte» kann alles und nichts heissen. Ist Ihre Partei bloss noch ein inhaltsleeres, taktisch-strategisches Wähler:innenfangprojekt?
Der Wähleranteil der CVP erodierte seit Jahrzehnten, das korrespondierte mit dem Zerfall des katholischen Milieus. 2019 stellten wir fest, dass wir unsere Basis sogar besser mobilisierten als die Grünen und die Grünliberalen, die ja stark zulegten. Aber es gelang uns nicht, über die Stammwähler hinaus zu mobilisieren. Im Wahlkampf sagten mir Leute: «Ich stimme mit den Inhalten Ihrer Partei am ehesten überein, aber ich kann sie nicht wählen, denn ich bin nicht religiös.» Diese Wahrnehmung war mitentscheidend für die Namensänderung und die Öffnung der Partei für neue Wählerinnen und Wähler, die überzeugt sind, dass es eine starke Kraft in der politischen Mitte braucht, die soziale Verantwortung übernimmt.
Nächste Woche: Was der Zuger Nationalrat Gerhard Pfister (61) kurz vor den Parlamentswahlen über bezahlten Lobbyismus im Bundeshaus denkt.