Ein Jahr danach in Gaza: «Als der Krieg begann, starben wir»

Nr. 40 –

Zuerst dachten viele, das Schlimmste würde nach ein paar Wochen enden. Nun aber dauert der Horror im Gazastreifen noch immer an. Sodass manchen selbst der Tod wie eine Erlösung erscheint.

Menschen sind zu Fuss und mit dem Fahrrad zwischen zerstörten Gebäuden im Zentrum von Gaza-Stadt unterwegs
Der Hunger, die Bomben, die soziale Krise: Einzig im Zentrum von Gaza-Stadt sind noch zwei Viertel belebt. Foto: Abdul Rahman Salama, Laif

Als Amdschad al-Ghasali aus Ägypten nach Gaza zurückkehrte, wollte er nicht lange bleiben. Fünf Jahre lang hatte er davor in Kairo gelebt, dort seinen Master in Finanzmanagement abgeschlossen und bei einer Immobilienfirma gearbeitet. Er plante, bald zu heiraten.

Zuvor aber wollte der Dreissigjährige seine Familie in Gaza besuchen. Das war im Sommer 2023. Ghasali ging also zurück. Doch drei Monate später brach der Krieg über den dicht bevölkerten Landstrich herein, ein Krieg, der anders war als alle anderen zuvor. Nach dem Überfall der Hamas in Israel am 7. Oktober, bei dem über tausend Menschen getötet und rund 250 Geiseln entführt wurden, begann die israelische Armee, Gaza zu bombardieren. Die israelische Regierung verhängte eine Blockade über Gaza: «Kein Strom, kein Essen, kein Diesel, alles wird abgeriegelt sein», sagte der israelische Verteidigungsminister Joaw Galant. Dann fügte er an: «Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und handeln entsprechend.»

Ein Jahr ist seither vergangen. Ein Jahr, in dem sich alles veränderte. Amdschad al-Ghasali hat in diesem Jahr seinen Vater verloren, der im Dezember bei einem Bombenangriff getötet wurde, sein Elternhaus und das Landstück, das seine Familie vor ein paar Jahren gekauft hatte, die Papaya-, Feigen- und Mangobäume. Er selbst hat eine Oberarmverletzung erlitten bei diesem Angriff, der zudem sein Büro und damit auch die Möglichkeit, zu arbeiten, zerstört hat. Dreissig Kilo hat Ghasali seither abgenommen.

Doch niemand schritt ein

Am Anfang hiess es: Ein paar Wochen, dann würde Israel Einhalt geboten werden. Weil die Zahl der zivilen Opfer zu hoch und die Zerstörung zu heftig sein würde. Doch niemand schritt ein, alle Bemühungen um eine Waffenruhe scheiterten, nicht zuletzt, weil die westliche Staatengemeinschaft nicht bereit war, genügend Druck auf Israel auszuüben. Die Zahl der Todesopfer schoss in die Höhe: Über 40 000 Menschen sollen bis heute in Gaza getötet worden sein, fast 100 000 verletzt. Eine halbe Million Menschen sind einem katastrophalen Nahrungsmangel ausgesetzt, und 1,9 Millionen sind intern vertrieben worden – das sind neunzig Prozent der Bevölkerung in Gaza.

Dieser Krieg wird tiefgreifende Folgen haben, die noch lange nachwirken. Die ersten davon kann man heute bereits sehen: 200 Kilometer nördlich von Gaza, im Libanon, hat die israelische Armee vergangene Woche begonnen, den Süden des Landes bis in die Ausläufer der Hauptstadt Beirut zu bombardieren. Ganze Wohnhäuser werden zerstört, jeden Tag zwischen 50 und 100 Menschen getötet. Bei einem Angriff auf einen Wohnblock in der Stadt Sidon wurden über 45 Menschen unter den Trümmern begraben und starben. Die Situation ist derart schlimm, dass die Leute im Libanon bereits sagen: «Das sind Szenen wie in Gaza.» Der Krieg ist zum Fanal geworden – zu einem Krieg, in dem es keine Schranken mehr gibt. Keine roten Linien.

Die Angst, erschossen zu werden

Heute lebt Ghasali mit seiner Mutter und drei Brüdern in einer kleinen Wohnung in Gaza-Stadt. Zwei Zimmer, Küche und Bad. Sie befindet sich im ersten Stock über einem Nähstudio, das abgebrannt ist. In der Folge haben sich die Wände in der Wohnung abgesenkt und von der Decke gelöst. Ihr Besitzer ist, wie Hunderttausende andere Menschen im letzten Jahr, aus dem Norden des Gazastreifens in den Süden geflohen.

Die Wohnung ist zwar kaum bewohnbar; der Strom, den sie über Solarpanels einfangen, reicht nicht einmal für den Ventilator. Dennoch sei die Wohnung ein Glücksfall, sagt Ghasali. «Weil wir hier umsonst und als willkommene Gäste leben können.» In der Wohnung, die sie davor bewohnten, verlangten die Besitzer, die selbst in Ägypten lebten, 400 US-Dollar Miete pro Monat – ein Preis, der in Gaza für kaum jemand bezahlbar ist.

Fünfzehn Mal ist die Familie innerhalb des letzten Jahres geflohen. In den ersten Wochen gab es noch Strom von Generatoren, doch irgendwann fehlte es an Diesel. Um ihre Handys zu laden, gingen Ghasali und seine Familie in die Krankenhäuser. Auch dort gab es, wie oft in dieser Zeit, manchmal über Tage hinweg gar keine oder eine ständig unterbrochene Internetverbindung.

Und doch hat die Familie Gaza-Stadt seit dem 7. Oktober nie verlassen. Zuerst war es der Vater, der nicht Richtung Süden fliehen wollte, denn dazu hätten sie Einheiten der israelischen Armee passieren müssen, die am Übergang des Streifens alle Einwohner:innen aus dem Norden kontrollierte, die im Süden vermeintliche Sicherheit suchten. Immer wieder wurden Menschen dabei willkürlich verhaftet oder gar erschossen. «Unsere Angst war zu gross», sagt Amdschad al-Ghasali. «Wenn jemand verhaftet wird, wissen wir nicht, was mit ihm passiert.»

Dann, kurz nach der Waffenruhe Ende November, kam der Luftangriff. Amdschad al-Ghasali wurde am Oberarm verletzt und fand seinen Vater blutüberströmt am Boden liegend. Er schaffte es, ihn zu befreien, ohne darauf zu achten, dass sein eigener Arm stark blutete. Daraufhin legte er seinen Vater zusammen mit Helfenden auf einen Holzwagen und brachte ihn zum Al-Ahli-al-Arabi-Spital. Das Al-Schifa-Spital war da schon nicht mehr in Betrieb. Die israelische Armee hatte es Mitte November belagert, gestürmt und zerstört – mit der Begründung, dass sich darunter ein Einsatzzentrum der Hamas befände. Der Vater überlebte seine Verletzungen nicht.

Kaum noch Lebensmittel

«Mein Vater kann ruhen», sagt Ghasali. «Er muss sich nicht mehr mitansehen, was seither noch alles passiert.» Wie die israelische Armee nacheinander in alle Regionen von Gaza eindrang und die Menschen zu Hunderttausenden in die Flucht schlug. Wie sie Schulen bombardierte, in denen Geflüchtete Zuflucht suchten; wie sie Menschen erschoss, die in Krankenhäusern ausharrten oder sich an Lastwagen mit Hilfsgütern hängten. All das muss sich sein Vater nicht mehr ansehen: die umfassende Zerstörung Gazas, die Zerstörung all der Häuser, Universitäten, Museen und historischen Gebäude.

Die Stadt Gaza sei heute weitgehend eine Geisterstadt, erzählt Ghasali. Einzig im Zentrum seien noch zwei Viertel belebt. Es kommen kaum noch Lebensmittel in den Norden des Gazastreifens: Die Konvois mit Hilfslieferungen starteten in Rafah und fuhren dann durch die Mitte des Streifens, bevor sie in den Norden gelangten. «Von einem Konvoi bleiben 50 Lastwagen in Rafah, 45 gehen nach Deir al-Balah – und 5 gelangen zu uns», sagt Ghasali. Zweimal habe er versucht, Lebensmittel zu ergattern, als die Konvois schliesslich die Stadt erreichten. «Beim zweiten Mal sah ich die Drohne über uns», erzählt er. Er bekam Angst – zuvor hatte die israelische Armee ein Massaker an Menschen verübt, die versuchten, sich Lebensmittel aus einem solchen Hilfskonvoi zu beschaffen. Es war das letzte Mal, dass er sich den Lastwagen zu nähern wagte. Derweil hat seine Familie, die vor dem Krieg noch zur Mittelklasse zählte, bereits ihre ganzen Ersparnisse aufgebraucht.

Und dann ist da die soziale Krise, die der Hunger mit sich bringt. «Es ist dieses Chaos, das am meisten wehtut», sagt Ghasali. Ein Bekannter seiner Schwester sei von hinten erstochen worden, als er mit einem bisschen Mehl zurück nach Hause wollte. Und seine eigene Familie, so Ghasali, zerstritt sich im Haus seines Onkels wegen einer 1,5-Liter-Flasche frischen Trinkwassers. Die Hilfskonvois wiederum würden regelmässig von bewaffneten Gangs überfallen, die die Ware zu horrenden Preisen auf dem Markt verkauften. Eine einzelne Zwiebel koste derzeit zehn US-Dollar, ein Kilo achtzig Dollar. Die Lage ist derart prekär, dass Leute Türen aus ihren Rahmen reissen würden und Bäume in fremden Gärten fällten, um Feuerholz zu gewinnen.

Zwanzig Dollar für zwei Paprikaschoten

«Mittlerweile erzählen sich die Leute den Witz: ‹Vor dem Krieg haben wir gelebt. Als der Krieg begann, starben wir. Und jetzt bezahlen wir für das, was wir vor dem Krieg gemacht haben.›» Schwarzer Humor – weil das Leben in Gaza so unerträglich ist, dass selbst der Tod wie eine Erlösung wirkt.

Später schickt Ghasali Fotos, die er im Lauf des letzten Jahres gemacht hat. Von den «Kartoffeln», die keine Kartoffeln sind, sondern zermahlene und zusammengeballte Kichererbsen. Von den bemalten Holzscheiten, die sie aus einer Tür gebrochen haben, um Feuer zu machen. Von zarten Blättern einer Pfefferminze, die die Familie in einem Plastikbecken angepflanzt hat. Von zwei kleinen Paprikaschoten, die zwanzig Dollar kosten. Vom Strand, den Ghasali und seine Freund:innen jeden Freitag besuchen, um Karten zu spielen: die einzige Erholung in diesem Wahnsinn um sie herum. Auf einem der Bilder sieht man den Strand, die Menschen – und im Hintergrund die zerstörten Häuser von Gaza-Stadt.

Und dann sind da die Bilder von dem Landstück, das die Familie vor vier Jahren gekauft hatte. Hier hatten sie 25 Bäume gepflanzt, Mango, Papaya, Feigen, einen Olivenbaum. Dazu Gemüse. Jeden Tag arbeiteten sie hier und brachten das Gemüse und die Früchte nach Hause. «Die Arbeit auf dem Land macht die Menschen glücklich und gesund», sagt Ghasali. Doch jetzt sind von diesem Land nicht einmal die Wurzeln übrig geblieben. Auf einem der Fotos sieht man eine einzelne wilde Blume im Vordergrund. Und im Hintergrund ein Gebäude, dessen Dach eingestürzt ist, davor Schutt. «Es tut weh, zu sehen, dass alles weg ist.»

Der Blick auf den Libanon

Amdschad al-Ghasali will raus aus Gaza. Doch die Preise, die die einzige ägyptische «Reiseagentur» in Gaza für den Grenzübertritt in den Sinai verlangt, haben sich vervielfacht. 10 000 Dollar bräuchten Ghasali und seine Familie, um rauszukommen. Eine Bekannte von ihm hat nun ein Crowdfunding lanciert, um das Geld für ihn zusammenzubringen. Woher sollten sie es sonst bekommen? Ihr Haus ist zerstört, fast alles, was sie besassen, ist weg.

Und jetzt, in diesen Tagen, schaut Amdschad al-Ghasali mit Entsetzen darauf, wie israelische Panzer an der libanesischen Grenze stehen und die Luftwaffe die Dörfer im Südlibanon bombardiert. «Es war ein Schock», schreibt er diese Woche in einer Nachricht. «Und ein grosser Schmerz. Schmerz über die Verletzten rund um die explodierten Pager, Schmerz über die Bodeninvasion, Schmerz über die zerstörten Gebäude. Ich wünsche mir, dass all diese Katastrophen enden. Dass der Blutstrom und der Tod von Menschen, die keine Schuld trifft, endlich aufhören.»