Vier Jahre in Tel Aviv: «Wir sind schon lange darauf zugeschlittert»
Judith Poppe hat als Nahostkorrespondentin aus Israel berichtet, auch für die WOZ. Nun ist sie nach Berlin geflohen – und zieht Bilanz.
Man kann sich an Sirenen gewöhnen. An das Heulen, das aus der Tiefe kommt, sich in die Höhe schraubt und dort verweilt. Selbst ich, die ich zu Panikreaktionen neige, konnte mich in den letzten vier Jahren, in denen ich als Korrespondentin über Israel und die palästinensischen Gebiete berichtet habe, irgendwie daran gewöhnen. Doch die Sirene, die uns am 7. Oktober aus dem Bett holte, hat sich in meinem Körper festgeschrieben. Das wusste ich noch nicht, als wir nach unserer Tochter griffen und in den Schutzbunker liefen. Jetzt weiss ich es. Jetzt, da die Erinnerung daran mit dem Wissen darüber angereichert ist, was da begonnen hat.
Vor wenigen Tagen sind wir in Berlin gelandet. Aber ich höre die Sirenen, wenn in der Wohnung unter uns eine Schleifmaschine angeworfen wird oder wenn ein Motorrad startet. Normalerweise kündigen sie Raketen an. Ich denke an die Bilder vom 7. Oktober: massakrierte Babys und Kinder, Vergewaltigungen, Geiselnahmen. Die Sirene taucht auch die Vergangenheit in ein anderes Licht. Denn retrospektiv wird immer klarer: Wir sind schon lange auf diesen Tag zugeschlittert.
Das Wohnzimmer voller Freund:innen
Vor vier Jahren wünschte mir meine Vorgängerin Susanne Knaul in ihrem Abschiedsartikel für die «taz», viele Texte über gute Entwicklungen schreiben zu können. Ich bin mir sicher, es war nicht zynisch gemeint. Doch: Es gab dazu wenig Anlass. «Netanjahu führt dieses wunderbare Land systematisch in den Abgrund», schrieb sie im selben Text. Wie tief der Abgrund sein würde, dürfte sie damals noch nicht geahnt haben.
Um nicht missverstanden zu werden: Verantwortlich für die grauenvollen Massaker an unschuldigen Babys, Kindern, Frauen und Männern, für die Geiselnahmen und Vergewaltigungen ist einzig die Hamas, die radikalislamische Terrororganisation, die in IS-Manier im Süden Israels gewütet hat und nun über 190 Geiseln im Gazastreifen festhält. Doch Netanjahu hat ermöglicht, dass es dazu kommt. So sieht es ein grosser Teil der Israelis.
In unserem Wohnzimmer in Deutschland, das zu einem Treffpunkt für ausgeflogene Israelis geworden ist, hängen Freundinnen und Freunde über einem Video aus den sozialen Medien. «Mein geliebter Bruder wurde von hasserfüllten Terroristen ermordet», sagt darin ein Mann mit erstickter Stimme auf der Beerdigung seines Bruders, eines Soldaten. «Aber die Tür geöffnet hat ihnen die israelische Regierung, vom Minister für Nationale Sicherheit und seinen messianischen, unverantwortlichen Clownfreunden […] bis hin zum Ministerpräsidenten, der alles zu tun scheint, um den Staat Israel zu zerschlagen.» Wie er fühlen viele. Fast jede:r kennt jemanden, der getötet oder verschleppt wurde oder sich stunden-, ja tagelang allein verstecken musste. Die sozialen Medien laufen mit Aufrufen heiss, die Geiseln im Gazastreifen zu retten. «Gefangenenaustausch jetzt!», heisst es. Derzeit laufen wohl geheime Verhandlungen, doch Israel bombardiert Gaza, als gäbe es dort keine Geiseln.
Die Erschütterung über das Versagen von Militär und Geheimdienst ist riesig. Drei Tage vor dem Angriff soll ein ägyptischer Geheimdienstmitarbeiter Netanjahu gewarnt haben, dass «etwas Grosses» bevorstehe. Den Berichten zufolge waren die ägyptischen Sicherheitsbeamten schockiert über Netanjahus Gleichgültigkeit. Das Militär sei mit den Problemen im Westjordanland absorbiert, soll er erwidert haben. «Sie mussten all die verrückten Siedler schützen», sagt eine Freundin leise in unserem Wohnzimmer. «Und Netanjahu hat doch die Hamas gross gemacht.»
Jahrelang ging es darum, den Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas im Westjordanland daran zu hindern, Fortschritte bei der Gründung eines palästinensischen Staates zu machen und die Spaltung zwischen Gazastreifen und Westjordanland zu vergrössern. Bargeld aus Katar gelangte in Koffern in den Gazastreifen, toleriert von den Netanjahu-Regierungen – ein Versuch, brüchige Waffenstillstände möglichst lange zu halten. Den Konflikt verwalten, lautete die Strategie. Die Menschen glaubten ihm, dass ihnen dies Sicherheit brächte. Selbst diejenigen, die daran harsche Kritik übten, die Besatzung kritisierten und für Gespräche mit den Palästinenser:innen waren, richteten sich in einer zwar prekären, vermeintlich aber doch existierenden Sicherheit ein.
Welche rote Linie gibt den Ausschlag?
Als ich im Herbst 2019 mit meiner Familie nach Tel Aviv zog, wog auch ich mich in relativer Sicherheit. Ich brachte unsere Tochter in den Waldkindergarten, tippte mir in Cafés meine Finger über die wiederholten israelischen Wahlen wund, fragte in Ramallah nach der palästinensischen Perspektive auf die Normalisierungsabkommen arabischer Staaten mit Israel. 2021 gab es gar Hoffnung auf ein wenig Veränderung: Die breite Mitte-Rechts-Links-Regierung unter Beteiligung einer arabischen Partei wurde vereidigt. Doch ein Jahr später zerbrach sie.
Wie so viele überlegten mein Partner und ich zuletzt fast täglich, bei welcher roten Linie wir, sobald überschritten, das Land verlassen würden. Wenn der rechtsextreme Minister für Innere Sicherheit, Itamar Ben Gvir, eine Miliz bekommt, lautete eine Antwort. Wir liessen die Linie vorbeiziehen. An der Grenze zum Libanon landete Anfang April hundert Meter von uns eine Rakete im Asphalt, während wir in einem Restaurant unter dem Tisch hockten. Die Wahrscheinlichkeit, bei einem Autounfall in Berlin getötet zu werden, ist grösser als bei einem Anschlag oder durch eine Rakete in Israel, rechnete mir mein Partner vor. Wir blieben.
Die Nächte, bevor ich zur Recherche über Siedlergewalt in das palästinensische Städtchen Huwara fuhr, schlief ich schlecht. Als hätte ich geahnt, dass eine Woche später eine Militäroperation in Nablus elf palästinensische Opfer fordern, kurz darauf ein Palästinenser zwei Israelis in Huwara erschiessen und in der Nacht darauf Horden von Siedlern pogromartig durch Huwara ziehen und Häuser und Autos in Flammen setzen würden. Sie wussten: Sie geniessen den Schutz der Regierung.
Den zwei konfligierenden Narrativen stand ich schon immer hilflos gegenüber. Ich verstehe die Zionist:innen, die davon überzeugt sind, dass es nach den historischen Erfahrungen heute eine Heimstätte für Jüdinnen und Juden geben muss. Und ich fühle mit den Palästinenser:innen, die unter Besatzung leben, deren Alltagsroutine jederzeit durch das Schliessen eines Checkpoints unterbrochen werden kann, deren Häuser mitten in der Nacht von Soldat:innen gestürmt und durchsucht werden. Deren Familien Land und Häuser im Krieg 1948 verloren und nie mehr zurückkehren konnten.
Wahrscheinlich werden sich die beiden Narrative nun noch unversöhnlicher gegenüberstehen. Während sich Israel auf eine Bodenoffensive in Gaza vorbereitet, die weitere zahlreiche israelische und palästinensische Opfer fordern dürfte und mit der sich auch die nächste humanitäre Katastrophe für den Gazastreifen abzeichnet. Während die vom Iran gelenkte, hochgerüstete Hisbollah unentschieden mit den Füssen scharrt und die USA mit zwei Flugzeugträgern drohen.
Möglicherweise wird es den Menschen, die zwischen Mittelmeer und Jordan leben, gelingen, irgendwann in irgendeine Form von Nahostnormalität zurückzukehren. Ich kann es nicht mehr. Wie sehr mir der Landstrich ans Herz gewachsen ist, merke ich erst jetzt, da ich – bis auf Weiteres – nicht zurückgehen werde.