Pierre Franzen (1946–2023): Widerspruch als Bewegung des Geistes

Nr. 42 –

Pierre Franzen hat als «Widerspruch»-Redaktor die linke Diskussionskultur in der Schweiz gestärkt.

Sein Engagement und seine Genauigkeit als Redaktor im Umgang mit Texten waren legendär. Hier war ein Wort nicht präzise genug, dieser Übergang stimmte argumentativ nicht ganz, und jener Hinweis sollte noch berücksichtigt werden, so wie es der beigelegte Zeitungsausschnitt suggerierte. Dreissig Jahre lang hat Pierre Franzen die Theoriezeitschrift «Widerspruch» geprägt. Er hat linke Positionen und Diskussionen vernetzt, mit seiner redaktionellen Arbeit viele Autor:innen angeregt und zum schärferen Denken angehalten.

1946 im Wallis geboren, studierte Pierre Franzen zuerst in Zürich, dann in Berlin, unter anderen beim Sozialphilosophen Peter Furth und beim Hegel- und Marx-Kenner Wolfgang Fritz Haug. Ja, Georg Wilhelm Friedrich Hegel blieb mit seinem dialektischen Denken ein jahrzehntelanger Bezugspunkt.

Portraitfoto von Pierre Franzen
Pierre Franzen Foto: Susi Lindig

Althusser importiert

Mitte der siebziger Jahre stieg Pierre bei der Westberliner Zeitschrift «Sozialistische Politik» ein und darf dabei in Anspruch nehmen, die französische marxistische Theorie, vor allem Louis Althusser, in den deutschsprachigen Raum importiert zu haben. 1979 kehrte er in die Schweiz zurück. Das hier herrschende theoretische Vakuum wollte er füllen. So traf man sich, darunter auch der Schreibende, für längere Konzeptdiskussionen. Im März 1981 – ein halbes Jahr vor der ersten WOZ – erschien die erste Nummer des «Widerspruchs». Seither habe ich Pierre vierzig Jahre lang bei diversen kulturpolitischen Projekten begleitet.

Den «Widerspruch» hat er von Beginn an geleitet und mitgestaltet. Dann, vor über zehn Jahren, wurde Parkinson diagnostiziert. Schweren Herzens gab er die Redaktionstätigkeit 2013 mit Heft 62 auf. Ihm blieb die konzeptionelle Arbeit. So initiierte er 2014 die Website theoriekritik.ch, die als digitaler Strang zur Zeitschrift gedacht war, und war ab 2017 am Aufbau des bücherraums f beteiligt, in dem rund 7000 Bücher, die sich während seiner Redaktionsarbeit angesammelt hatten, jetzt öffentlich zugänglich sind.

Für den «Widerspruch» konnte er zahlreiche Autor:innen gewinnen: Arnold Künzli, Manfred Züfle, Paul Parin, Jean Ziegler; Hans Schäppi, Ueli Mäder, Tove Soiland, Jo Lang, Mascha Madörin – ja, die Frauen waren untervertreten, obwohl sich Pierre immer wieder um einen stärkeren Einbezug bemühte. Dazu publizierten viele Theoretiker:innen aus den benachbarten Ländern; von André Gorz etwa hat der «Widerspruch» ein halbes Dutzend Artikel gedruckt, zuweilen als Originalbeiträge.

Die Seismografie

Pierre betonte die kollektive Arbeit – immer band er uns andere in Diskussionen und Entscheidungen ein. Aber auch das Kollektiv ist von Arbeitsteilung, ja Hierarchien durchzogen. Pierre genoss durch sein Wissen, sein Engagement, seine unermüdliche Diskussionslust eine besondere Autorität. Es war nicht immer leicht mit ihm. So wie er selbst arbeitete, forderte er es auch von anderen. Abschluss- und Drucktermine hielt er für durchaus flexibel, bis jemand von der Redaktion sagen musste: «Jetzt ist genug.»

Er schrieb zahllose Briefe, seitenlange Anmerkungen zu Artikeln, aber selten eigene Beiträge; nur einige Vorworte sind mit dem Kürzel P. F. gezeichnet. Der Widerspruch war für ihn eine Bewegung des Geistes, die kaum je zum Abschluss kam. Doch im steten Austausch leistete er Mäeutik, «Hebammenkunst» für andere.

Die Wirkung des «Widerspruchs» lässt sich nur schwer ermessen. Jederzeit blieb die Zeitschrift ein Nischenprodukt, zu den Hochzeiten mit einer Auflage von 2500 Exemplaren, jetzt noch etwa der Hälfte. Es ging um die Vernetzung theoretischer und politischer Milieus, darum, bestimmte Themen in Erinnerung zu halten oder vorgreifend zu skizzieren. Am besten lässt sich die Zeitschrift als Seismografin verstehen, die die Ereignisse aufzeichnet, reflektiert und erste Schlüsse erlaubt, um so den künftigen Ereignissen vielleicht doch einen Schritt voraus zu sein. Wirkung erzielte sie allerdings zweifellos diffundiert durch die Autor:innen.

Am 8. Oktober ist Pierre Franzen im Alter von 77 Jahren gestorben.