Was wird aus Gaza?: «Wenn das jetzt kein Weckruf ist …»

Nr. 44 –

Seit dem Wochenende rückt die israelische Armee im Gazastreifen mit Bodentruppen vor. Politologin Muriel Asseburg über die gescheiterte Politik der letzten Jahre, humanitäre Feuerpausen und die wahrscheinlichsten Szenarien für die Zukunft der Region.

Zerstörtes Gebäude in Chan Yunis im Süden des Gazastreifens
Auch im Süden des Gazastreifens gibt es keine Sicherheit: Zerstörtes Gebäude in Chan Yunis. Foto: Ahmad Hasaballah, Getty

WOZ: Frau Asseburg, als Forscherin haben Sie den Nahen Osten seit Jahrzehnten im Blick. Viele Beobachter:innen sehen den 7. Oktober als Zäsur. Teilen Sie diese Einschätzung?

Muriel Asseburg: Ja, denn es war nicht nur der erste Angriff dieser Grösse auf israelisches Kernland, sondern auch das erste Mal, dass Gräueltaten dieses Ausmasses gegen die israelische Zivilbevölkerung gerichtet waren. Und auch wenn es schon früher Geiselnahmen gab – die Entführung und Verschleppung so vieler Menschen ist ebenfalls ein Novum. In Israel selbst wird der 7. Oktober zudem als Zäsur wahrgenommen, weil der Hamas damit ein empfindlicher Schlag gegen die Abschreckung des Landes gelang.

Israel hat auf die Massaker der Hamas mit Luftschlägen auf Gaza reagiert, seit dem Wochenende sind auch Bodentruppen vor Ort. Wieder einmal ist das Gebiet ein Politikum.

Die Angriffe der Hamas und ihrer Mittäter haben sehr deutlich gemacht, dass Israels bisheriger Ansatz gegenüber dem Gazastreifen keine dauerhafte Stabilität bringt: Weil Abriegelung und wiederkehrende militärische Auseinandersetzungen keine wirtschaftliche Entwicklung zulassen, schaffen sie weder Sicherheit für Israel, noch erlauben sie den Palästinenser:innen ein menschenwürdiges Leben. Schon rein aus humanitären Gründen, um eine regionale oder gar internationale Eskalation zu vermeiden, muss sich die internationale Gemeinschaft jetzt mit dem Thema befassen – und um endlich eine tragfähige Regelung zu finden.

Portraitfoto von Muriel Asseburg
Muriel Asseburg

Welche Politik verfolgte Israel gegenüber Gaza in den letzten Jahren?

2005 hat Israel zwar sein Militär aus Gaza abgezogen und die Siedlungen abgebaut, die Besatzung aber nicht beendet. Nach wie vor kontrolliert es die Grenzen – wir sehen jetzt, dass es auch am Übergang zwischen Gaza und Ägypten mitentscheidet –, es kontrolliert die Küstengewässer, den Luftraum und sogar das Bevölkerungsregister. Die internationale Gemeinschaft wollte damals auf freien Personen- und Warenverkehr und ökonomische Entwicklung hinwirken. Im Gespräch war sogar ein «Singapur oder Dubai des Nahen Ostens»: der Gazastreifen als grosses Entwicklungsprojekt – was bei dem hohen Bildungsniveau der Bevölkerung gar nicht abwegig war.

Weshalb ist die Idee gescheitert?

Als Antwort auf die Entführung des israelischen Soldaten Gilad Schalit im Sommer 2006 durch die Hamas hat Israel den Gazastreifen weitgehend abgeriegelt – und die Blockade nach der Machtübernahme der Hamas ein Jahr später noch einmal verschärft. Das führte zu einem völligen Zusammenbruch der Wirtschaft. Schon vor dem aktuellen Krieg waren achtzig Prozent der Menschen von internationaler Hilfe abhängig.

Hat es in den Jahren der israelischen Blockade je die Chance auf eine andere Entwicklung gegeben?

Nein, denn das hätte ja die Möglichkeit von Handel vorausgesetzt. Seit Mai 2021 bestand zwischen Israel und der Hamas immerhin eine Art Stillhalteabkommen: Im Gegenzug dafür, dass sich die Hamas nicht mehr an bewaffneten Auseinandersetzungen beteiligte, erhöhte Israel die Zahl der Arbeitsgenehmigungen für Personen aus Gaza und liess den Fluss von Geldern und humanitärer Hilfe aus Katar zu. Die grösste Not hat diese Vereinbarung abmildern können, entspannt hat sich die Lage dadurch aber überhaupt nicht.

Die derzeitigen Nachrichten aus Gaza zeugen von einer katastrophalen humanitären Lage. Was wäre vordringlich, um das Leid der Bevölkerung zu lindern?

Am dringendsten wären humanitäre Feuerpausen, damit Hilfslieferungen nicht nur in den Süden des Gazastreifens gelangen, sondern auch in die anderen Teile. Es muss auch dringend – und das ist bislang noch gar nicht passiert – Treibstoff geliefert werden, denn die Elektrizitätsversorgung ist völlig zusammengebrochen. Die Spitäler können ihre Patient:innen aber nur versorgen, wenn die Generatoren arbeiten. Und auch die Trinkwasserversorgung, Entsalzungs- und Kläranlagen funktionieren nur mit Strom. Dringlich ist auch die Befreiung der Geiseln durch Verhandlungen.

Mit ihrem militärischen Vorgehen verfolgt Israels Führung das erklärte Ziel, die Hamas zu zerstören. Lässt sich eine Terrororganisation so vernichten?

Die Hamas militärisch zu besiegen, halte ich für wenig realistisch. Im Häuserkampf ist sie im Vorteil und in ihrem weitverzweigten Tunnelsystem hat sie Vorräte angehäuft, mit denen sie lange ausharren kann. Zudem verfügt sie über eine grosse Zahl von Kämpfern und Führungspersonen – selbst wenn viele davon getötet würden, verbliebe die Führungsstruktur im Ausland. Das Hauptproblem ist aber, dass der rein militärische Ansatz der Terrorismusbekämpfung die Bevölkerung nicht miteinbezieht: Er ist das Gegenteil eines Deradikalisierungsprogramms. Man müsste Perspektiven schaffen, die radikalen Bewegungen den Nährboden entziehen. Palästinenser:innen sind ja nicht an sich radikal, sondern weil sie keine Alternative zum bewaffneten Kampf sehen.

Wie stark ist der Rückhalt der Hamas?

Weil man in der aktuellen Situation keine Umfragen machen kann, ist das sehr schwer zu beurteilen. Die letzten Erhebungen, die ich kenne, sind von September – und in denen liegen die Hamas und die Fatah insgesamt etwa gleichauf. Tatsächlich gibt es in Gaza deutlich mehr Kritik an der Hamas. Denn die Menschen dort sind deren repressivem Regime ausgesetzt und spüren täglich, dass die Hamas nur wenige ihrer Versprechen eingelöst hat – von der Versorgung über den Kampf gegen Korruption bis zur Gewährleistung der Sicherheit. Die Menschen in Gaza werden ja durch die militärischen Aktionen der Hamas immer wieder in Geiselhaft genommen.

Lässt sich hinter Israels militärischem Vorgehen auch ein politischer Plan erkennen?

Israel hat keinen solchen Plan vorgelegt, aber es gibt Aussagen von Regierungsmitgliedern: Der Aussenminister etwa sagte, dass das künftige Territorium von Gaza kleiner sein werde als bisher. Und der Verteidigungsminister hat die Etablierung eines Sicherheitsregimes angekündigt, in dem Israel keine Verantwortung mehr für Gaza tragen werde. Wahrscheinlich ist deshalb ein Szenario, auf das auch das aktuelle militärische Vorgehen schliessen lässt: die Ausweitung des bereits bestehenden Sperrgebiets entlang des Grenzzauns, das sogar Teile von Gaza-Stadt umfassen würde – eine Zone, in der keine Menschen mehr leben würden und in der auch keine Landwirtschaft oder sonstige Aktivitäten mehr möglich wären. Hinzu käme eine komplette Abriegelung, wie wir sie seit dem 8. Oktober sehen. Eine harte Grenze, die weder für Arbeitskräfte oder medizinische Überweisungen noch für Handel durchlässig wäre. Israel würde dann auch keinen Strom oder Trinkwasser mehr liefern.

Wäre das völkerrechtlich gesehen überhaupt zulässig?

Meiner Ansicht nach wäre ein solches Vorgehen nicht nur völkerrechtswidrig, sondern auch verheerend für die Bevölkerung: Das würde eine permanente Vertreibung von Teilen der Menschen innerhalb Gazas bedeuten – in einem ohnehin schon extrem dicht besiedelten Gebiet. Zudem wäre so keine wirtschaftliche Erholung möglich. Dazu bräuchte es weitgehend freien Personen- und Warenverkehr, nicht eine verschärfte Abriegelung.

Wer würde denn in einem solchen Fall die Versorgung Gazas übernehmen?

Wenn alle Grenzen nach Israel geschlossen sind, könnte die Versorgung nur über den Sinai in Ägypten laufen. Kairo hat zwar überhaupt kein Interesse daran, in die Verantwortung gedrängt zu werden. Aber viel grösser ist die Sorge angesichts eines anderen Szenarios: dass es zur permanenten Vertreibung von Teilen oder sogar der gesamten Bevölkerung aus dem Gazastreifen auf ägyptisches Territorium kommt. Ägypten und andere arabische Staaten wollen unter keinen Umständen, dass auf ihren Territorien wieder Flüchtlingslager entstehen. Das ruft Erinnerungen an die Flucht und die Vertreibung der Palästinenser:innen von 1948 wach.

Welches Zukunftsszenario halten Sie für das realistischste?

Ich befürchte, dass es tatsächlich eine verschärfte Abriegelung mit einer breiten Pufferzone sein wird – die allerdings keine Stabilisierung verspricht. Wichtig wäre stattdessen eine Regelung, die israelische und palästinensische Sicherheitsinteressen ebenso wie das Recht der palästinensischen Bevölkerung auf Entwicklung berücksichtigt. Es ginge um eine verhandelte Öffnung des Gazastreifens, basierend auf einem Sicherheitsregime, das nicht nur auf militärische Massnahmen setzt. Verschiedene Akteur:innen würden Sicherheitsgarantien übernehmen und Unterstützung bereitstellen – die USA und die EU und ebenso Länder wie die Vereinigten Arabischen Emirate oder Marokko, die ihre Beziehungen mit Israel im Jahr 2020 durch die Abraham-Abkommen normalisiert haben. Auch Saudi-Arabien, das mit Israel und den USA bis zum 7. Oktober im Gespräch über einen Friedensvertrag war, könnte eine wichtige Rolle spielen.

Welche politische Führung sehen Sie für Gaza im Fall eines Sieges über die Hamas?

Diskutiert wird, ob die Palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah diese Aufgabe übernehmen könnte – was ich derzeit für unrealistisch halte. Die stark geschwächte Behörde kann weder für Sicherheit sorgen, noch hat sie genügend Legitimität. Schon gar nicht, wenn sie auf dem Rücken der israelischen Panzer käme. Eine Rolle spielen kann sie nur mittelfristig im Rahmen einer verhandelten Regelung. Dafür braucht sie aber auch eine demokratische Legitimation durch die Bevölkerung in Gaza und der Westbank.

Im Gespräch ist auch eine treuhänderische Verwaltung des Gebiets.

In diesem Szenario würde eine Uno-Truppe für Sicherheit sorgen und eine internationale Treuhandschaft oder Verwaltung unter Uno-Mandat etabliert werden. Dazu bräuchte es allerdings einen Beschluss des Sicherheitsrats – und das ist bei den Spannungen zwischen den USA auf der einen und Russland und China auf der anderen Seite nicht absehbar. Statt einer Lösung in der Uno müssten sich also die USA, die Europäer:innen und die arabischen Staaten zusammentun.

Gibt es bereits Bestrebungen in diese Richtung?

Bislang scheinen sich die internationalen Bemühungen stark auf die Rettung der Geiseln, auf den Zugang zu humanitärer Hilfe und Feuerpausen zu fokussieren – und darauf, eine weitere Eskalation in der Region und darüber hinaus zu verhindern. Die Frage nach dem Danach wird aber hinter den Kulissen auch bearbeitet.

Ist eine Zweistaatenlösung nun noch weiter in die Ferne gerückt?

Die lag vorher schon in sehr weiter Ferne. Nun ist die Palästinafrage allerdings wieder auf dem internationalen Tapet. Wenn der 7. Oktober und die fürchterlichen Bilder aus Gaza kein Weckruf sind, sich endlich gemeinsam für eine dauerhafte Konfliktregelung einzusetzen, dann sehe ich schwarz. Denn eines ist klar: Die Idee, dass man den Konflikt ignorieren und lediglich verwalten könnte, ist gescheitert. Zugleich hat der 7. Oktober leider auch bewirkt, dass die Idee eines binationalen Staates, die schon zuvor von nur wenigen befürwortet wurde, nach den Gräueltaten der Hamas in Israel mit Sicherheit nicht mehr attraktiv ist. Damit ist also eine Alternative zur Zweistaatenregelung desavouiert worden.

Die Politologin Muriel Asseburg (55) arbeitet bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Sie hat vielfach zum Nahostkonflikt publiziert, 2021 etwa das Buch «Palästina und die Palästinenser. Eine Geschichte von der Nakba bis zur Gegenwart». Kürzlich ist auch der Band «Der Nahostkonflikt. Geschichte, Positionen, Perspektiven» von Asseburg und Jan Busse neu aufgelegt worden.