Gesundheitspolitik: Ungesunde Fehlanreize
Seit der Covid-19-Pandemie ist das Gesundheitssystem verstärkt auf der politischen Agenda, und gerade ist das Interesse der Schweizer Öffentlichkeit daran besonders lebendig. Grund dafür sind zum einen die Prämienentlastungs- sowie die Kostenbremseinitiative, die beide im Juni zur Abstimmung kommen und daran erinnern, wie viel Geld aus Privathaushalten jährlich für die Gesundheitskosten draufgeht, obwohl die Löhne nicht gestiegen sind. Zum anderen machen grosse Spitäler wie das Universitätsspital Basel oder das Kinderspital Zürich Schlagzeilen, weil sie mit Kantonsgeldern in der Höhe von Hunderten Millionen Franken ihre Defizite ausbügeln und sich gleichzeitig neue Prunkbauten leisten – während die eigentliche Gesundheitsversorgung seit Jahren am Limit läuft. Das vom 1.-Mai-Komitee für die diesjährige Feier in Zürich gesetzte Motto «Kapitalismus macht krank» ist nicht nur ein linker Evergreen, sondern geradezu tagesaktuell.
Dabei sind die dominierenden Themen wie überfüllte Notfallaufnahmen und akuter Personalmangel nur ein Teil des Problems. Das Hauptproblem sind fehlgeleitete Anreize für die Spitalfinanzierung. Spitäler verdienen noch immer das meiste Geld mit stationären Angeboten – obschon immer mehr Behandlungen ebenso gut auch ambulant gemacht werden könnten. So können die Spitäler zwar mehrheitlich auf dem Markt bestehen, die tatsächlichen Bedürfnisse der Bevölkerung sind damit aber nicht gedeckt. Prämienzahler:innen fallen so der Logik eines von Kassen und Staat kreierten Pseudomarkts zum Opfer: Statt dass die Bedürfnisse der Patient:innen im Zentrum stehen, richten sich die medizinischen Behandlungen zu oft danach, was lukrativ ist.
Mit am dringlichsten zeigt sich dieses Missverhältnis in den psychiatrischen Einrichtungen. Laut dem Gesundheitsobservatorium Obsan leidet rund ein Drittel der Schweizer Bevölkerung an psychischen Problemen. Zehn Prozent der Bevölkerung weisen mittelschwere bis schwere Depressionssymptome auf. Die Lage ist akut, Hilfe erhält aber nur eine:r von drei Betroffenen.
Das liegt am Fachkräftemangel und an chronisch unterfinanzierten ambulanten Angeboten für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Aber auch am Föderalismus. In der Schweiz gibt es 26 verschiedene Psychiatriesysteme. Statt eine Vereinheitlichung anzustreben, etwa indem man die Versorgung in grösseren Regionen organisiert, macht jeder Kanton seine eigenen Regeln. Hinzu kommt, dass es verschiedene tarifliche Vergütungssysteme gibt, nach denen die Leistungserbringer abrechnen. Kompliziert wird es vor allem, wenn Patient:innen interdisziplinäre Behandlungen benötigen, es Schnittstellen zur Sozialarbeit braucht oder mobile Angebote in Anspruch genommen werden müssen. Besonders widersinnig wirkt sich die Einführung von Fallpauschalen auf die psychiatrische Grundversorgung aus. Für Therapeut:innen ziehen diese Wirrungen zudem einen hohen administrativen Aufwand nach sich.
Wegen der Überlastung nehmen ausserdem immer weniger Fachpersonen Härtefälle auf, bei denen ein hohes Mass an persönlichem Engagement nötig ist. Die Erkrankten landen auf dem Notfall oder in den stationären Abteilungen, werden dort aufgrund fehlender Ressourcen frühzeitig entlassen und kommen wieder zurück. Die «Drehtürpsychiatrie» nimmt ihren Lauf, bis Betroffene irgendwann auf stationäre Langzeitpflege angewiesen sind. Das verursacht zusätzliches Leid und immense Kosten.
Doch gerade im Bereich der psychischen Erkrankungen gibt es auch immer wieder Lichtblicke. In erster Linie bei der Entstigmatisierung, für die zahlreiche Organisationen jeden Tag kämpfen. Was dazu führt, dass in der Schweiz immer mehr Menschen psychiatrische Angebote auch in Anspruch nehmen. Ermutigend sind auch Ideen wie die von der Alternativen Liste in Zürich angestossenen «Freundschafts-Bänkli» für Beratungen oder ambulante Möglichkeiten wie das «Home Treatment», das akut psychisch Erkrankte zu Hause behandelt. Dass sich solche Angebote halten können, ist engagierten Fachleuten zu verdanken, die sich von der Marktlogik des Gesundheitssystems nicht erdrücken lassen.