Grüne in der Krise: Verliert die Bewegung nicht!

Nr. 46 –

Ausgerechnet Lisa Mazzone. Die Genfer Ständerätin, eine der profiliertesten grünen Bundespolitiker:innen, hat am Wochenende ihren Sitz verloren. Und auch in der Waadt flogen die Grünen aus dem Ständerat. Dann wurde am Dienstag bekannt, dass Parteipräsident Balthasar Glättli zurücktreten will. Das sind keine guten Voraussetzungen für die Bundesratswahlen in einem Monat. Die Partei wirkt schwach – doch im Radio klang Glättli ganz vergnügt. Und vielleicht hat er recht. Trotz der Verluste haben die Grünen im Oktober das zweitbeste Wahlresultat ihrer Geschichte erreicht.

Ob ein:e Politiker:in beachtet wird, hängt mindestens so sehr von Charme, Charisma und Eloquenz wie von sachpolitischer Kompetenz ab. Das ist verständlich. Doch die Personalisierung hat längst fragwürdige Dimensionen angenommen. Wenn eine Partei Wähler:innenanteile verliert, gilt das als persönliches Versagen des Präsidiums – als wäre es so einfach. Die Sparrunden der Medien fördern die Personalisierung: Es geht schneller, einen Text über Glättlis angeblich fehlendes Charisma zu schreiben als etwa über die Frage, ob die Grünen in der Energiepolitik eingelöst haben, was sie 2019 versprachen.

Der grüne Wahlerfolg vor vier Jahren war getragen von der Mobilisierung der Klimabewegung, die über das links-grüne Milieu hinaus viele ansprach. 2023 ist die internationale Themenkonjunktur eine völlig andere: Angst, Aufrüstung, Abschottung. Und Geldsorgen. Wenn Leute Angst haben, wählen sie kaum je linker als zuvor. Auch die charismatischste Grünen-Präsidentin hätte diese Tendenz wohl nicht umdrehen können.

Aber es stimmt, die Grünen haben strategische Fehler gemacht. Balthasar Glättli ist ein brillanter Kopf, aber nicht unbedingt ein mitreissendes Aushängeschild. Hat die Partei die von einer Gönnerin für den Wahlkampf gespendete Million Franken effektiv eingesetzt? Und hätten die Grünen nicht besser mit voller Kraft für ihre beiden gefährdeten Ständeratssitze in Genf und der Waadt mobilisiert, statt auf einen aussichtslosen Bundesratswahlkampf zu setzen?

Die vielleicht schwierigste Frage, der sich die Grünen stellen müssen, betrifft das Verhältnis zu den ökologischen Bewegungen, denen sie den Wahlerfolg von 2019 verdankten. Die Partei hat nicht nur viele Klimabewegte enttäuscht, sondern auch Natur- und Landschaftsschützer:innen. Die Energiepolitik war für die Grünen das wohl schwierigste Dossier der letzten Legislatur. Sie wirkten überrumpelt von Vorlagen, die den Schutz von Landschaft, Gewässern und seltenen Arten der Energieproduktion opfern wollten. Ein fast unlösbares Dilemma: Sollten sie hochproblematische Angriffe auf das Umweltrecht zulassen? Oder als Verhinder:innen der Energiewende gelten? Aus der Sicht vieler Naturschützer:innen liessen sie zu viele Kompromisse zu, auch in der Raumplanung. Die Frage bleibt offen: Hätten sich die Grünen Schweiz wie die Walliser Grünen positionieren und kompromisslos Solarpanels «auf die Dächer, nicht in die Natur» fordern sollen? Oder sind es die Kompromisse wert, weil sie (zusammen mit dem Klimaschutzgesetz) die Energiewende vorwärtsbrachten – und zwar, anders als in Deutschland, ohne grosse Teile der Bevölkerung hässig zu machen?

In der Allianz zwischen Grünen und Klimabewegung war die Enttäuschung hingegen von Anfang an angelegt. Die Bewegung stellt Forderungen, die weder im Parlament noch in der Gesellschaft mehrheitsfähig sind. Das ist ihre Aufgabe: darauf hinzuweisen, dass wir noch lange nicht dort sind, wo es nötig wäre. Was die Grünen im Bundeshaus erreichen, wird der Bewegung nie genügen – zu Recht. Nötig wäre ein produktiver Umgang mit dieser Enttäuschung, denn es wird auch in Zukunft beides brauchen: Bundespolitik und Bewegungen. Was die SP mit Tamara Funiciello hat – eine Politikerin, die an Demos genauso zu Hause wirkt wie im Ratssaal –, fehlt den Grünen leider.

Es braucht die Grünen weiterhin. Und ein diverseres (Ko-)Präsidium wird der Partei guttun. Eine der kompetentesten Kandidatinnen hätte gerade Zeit: Lisa Mazzone.

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Kommentare

Kommentar von Igarulo

Do., 16.11.2023 - 11:51

Das Problem der Grünen war, dass sie oft kaum wahrgenommen wurden und wenn sie mal auftauchten, dann als ideologieverhaftete Verhinderer von Alternativenergien. Die Partei mit ihrem Präsidenten wirkte schwach und wenig kompetent im Verhältnis zu den anstehenden Problemen.

Kommentar von Florian Müller

Do., 16.11.2023 - 21:10

@ Igarulo.
Ihre Argumentation wirkt etwas holzschnittartig und gleicht dem FDP-Sprech, den ich heute von Avdili auf Tele Züri hörte, einfach auf die andere Seite. Sachliche Argumente sind das nicht, dabei zeigt Bettina Dyttrich hier klar auf, wie sich die Grünen in Legislatur und Vorlagen verzettelten und wie so ihr 'Alleinstellungsmerkmal' verblasste.

Mit einem neuen Präsidium werden die geschrumpften und befreiten Grünen eine neue und unabhängige Erzählung präsentieren und in vier Jahren zu den Wahlsiegern gehören.