Grüne in der Krise: Unangenehmer wollen sie werden
Nach der Wahlniederlage hat bei den Grünen die Aufarbeitung begonnen. Einig ist man sich nicht. Doch Parteipräsident Balthasar Glättli fordert eine Dauerkampagne.
Es war am feministischen Streik Anfang Sommer, als Katharina Prelicz-Huber realisierte, dass etwas gehörig schiefgegangen sein musste. Eine junge Frau kam damals auf die nun knapp wiedergewählte Zürcher Grünen-Nationalrätin zu und konfrontierte sie: Nichts hätten die Grünen getan in den letzten vier Jahren. Nichts, aber auch gar nichts, deshalb werde sie der Partei ihre Stimme nicht mehr geben. «Ich habe sie dann darum gebeten aufzuzählen, was wir versäumt haben», erzählt Prelicz-Huber. Die junge Frau nannte fünf Themen. «Zu zwei Punkten habe ich selber einen Vorstoss eingereicht, zu den anderen drei Kolleg:innen aus der Fraktion», sagt Prelicz-Huber. Ihr Befund: Die Grünen haben ein Kommunikationsproblem. Was die Partei alles leistet, geht im Getümmel unter. «Wir sind oftmals zu abstrakt, wir müssen menschennah kommunizieren», fordert die erfahrene Politikerin.
Zwei Erklärungsmuster im Umlauf
Nach der Wahlniederlage am vergangenen Sonntag hat in der Partei die Aufarbeitung begonnen. Die Zahlen sind brutal: Der Wähler:innenanteil ist abgesackt, von 13,2 auf 9,8 Prozent. Auf die Rekordwahl vor vier Jahren folgt die Ernüchterung. Wie es zur grossen Demobilisierung der eigenen Anhänger:innenschaft kam, was die nötigen Antworten darauf sind und wie sich der Trend umkehren lässt, darüber herrscht Uneinigkeit. Doch zwei Erklärungsmuster lassen sich unterscheiden: Das eine sieht die Schuld für das schlechte Abschneiden bei eigenen Fehlern und Versäumnissen. Das andere bei äusseren Umständen, zuvorderst bei der Themenkonjunktur, wo die Sorge ums Klima von vermeintlich drängenderen Krisen verdrängt wurde.
Oder bei den Medien, die den Grünen geschadet hätten. «Sie müssen nur motzen, und schon kriegen sie die Schlagzeilen», beschwert sich Vizepräsidentin Sibel Arslan, die eben in einer schwierigen Wahl in Basel-Stadt als Nationalrätin bestätigt worden ist. «Sie»: Das ist die SVP. Arslan sieht ihre Partei in die Rolle gedrängt, auf jeden Blödsinn der Rechten reagieren zu müssen. Egal ob bei der Zuwanderung, bei Klimaprotesten, bei der Energiewende – stets würden die Grünen von Journalist:innen dazu angehalten, zu abstrusen Forderungen der SVP Stellung zu beziehen. «Sie haben uns in die Defensive gedrängt», stellt Arslan fest. Ihr Rezept dagegen: auf solche Anfragen gar nicht mehr eingehen.
Doch das mediale Klima dürfte in der nächsten Zeit eher noch unvorteilhafter werden. Wie schaffen es die Grünen da, dass sie gehört werden?
Die Themen sind gesetzt
Das ist die Frage, die Balthasar Glättli umtreibt, den Präsidenten der Partei. Glättli ist angezählt. Weniger in der Fraktion als in kantonalen Sektionen sind in Gesprächen Rücktrittsforderungen zu hören. Für die Spitze müsse eine Figur mit mehr Charisma her, wird gesagt. Eine Persönlichkeit, die intern strenger die Linie vorgibt. Katharina Prelicz-Huber erteilt dieser Forderung schon einmal eine Absage, sie hält sie für unvereinbar mit der DNA der Partei: «Wir haben nicht so wahnsinnig gerne Typen, die das Gefühl haben, sie seien der King.»
Glättli selber gibt keine Hinweise darauf, dass er an einen Rücktritt denkt. Er umschifft die Frage im Gespräch. Seit Sonntag und eigentlich schon viel länger grübelt er daran herum, wie die Grünen mehr Wirkungsmacht gewinnen können. Er geht die Themen seiner Partei durch, als würde er überprüfen, ob sie noch richtig klingen. «Klima, Gleichstellung, Biodiversität, Öffnung Europa.» Glättli macht eine kurze Pause. «Das muss so sein, das sind und bleiben unsere Themen.» Eine Partei könne nicht einfach ihr Programm über den Haufen werfen: «Gerade jetzt ist ganzer Einsatz dafür nötig!» Doch wenn es nicht an den Themen liegt – woran dann?
Jedenfalls nicht an der fehlenden Radikalität in der Klimapolitik, findet Glättli. «Wir sind sicher nicht zu wenig Verbotspartei.» Ziele allein brächten keinen Klimaschutz: «Dafür brauchts Massnahmen! Kompromisse in der Form? Ja, weil wir Mehrheiten brauchen. Aber nicht in der Ambition.»
Glättli vermutet die Mängel woanders: bei der fehlenden Durchschlagskraft. Die Grünen müssten besser darin werden, Unterschriften für Initiativen und Referenden zu sammeln. Auch, um eigene Akzente zu setzen. Denn es besteht die Gefahr, dass sich die Partei im Widerstand gegen die rechte Politik abnutzt, ohne eigene Ideen verwirklichen zu können. Glättli schwebt ein mit viel Ressourcen ausgestattetes Superdesk für Kampagnen vor, damit etwa eigene Vorstösse im Parlament nicht mehr ungehört versanden. Sein Ziel ist eine dauerhafte Mobilisierung und damit Aktivierung der Zivilgesellschaft auch zwischen Abstimmungen und Wahlen. Glättli fordert: «Wir müssen unangenehmer werden.»
Skeptischer Klimastreik
Dazu braucht es auch die Einbettung der neuen Klimabewegungen. Doch diese sind enttäuscht, dass die Grünen in den letzten vier Jahren keine radikalere Klimapolitik verfolgt haben. Jonas Kampus, aktiv im Klimastreik, konstatiert: «Es besteht Frustration.» Zum einen hätten politische Entscheide der Grünen, etwa das Abrücken vom Ziel in der Stadt Zürich, die Treibhausgasemissionen bis 2030 auf netto null zu senken, Irritationen ausgelöst. Zum anderen prangert Kampus eine fehlende Augenhöhe in der Zusammenarbeit an. «Wir wurden bloss belächelt, als wir SP und Grünen unseren Klimaaktionsplan vorgestellt haben.» Mit 168 Massnahmen hat der Klimastreik zusammen mit Expert:innen ein eigenes Konzept vorgelegt, damit die Schweiz ihre Klimaziele noch erreichen kann. Beim grossen Klimastreik, als Mitte Oktober in Bern 60 000 Leute auf die Strassen gingen, riefen die Grünen zwar zur «Klimawahl» auf – doch die Bewegung selber tat dies bewusst nicht. Zu gering ist das Vertrauen, auf parlamentarischem Weg voranzukommen.
Erfolgreiche Jungpartei
Nun, nach dem «schwarzen Sonntag», ist dieses Vertrauen weiter erschüttert. «Es wird in der Klimabewegung vermehrt zivilen Ungehorsam geben», vermutet Kampus. Sicher ist er sich nicht, ob das der richtige Weg ist – oder ob es angesichts der verhärteten politischen Verhältnisse nicht einen neuen Pragmatismus braucht: «Vielleicht müssen wir manchmal auch Zwischenerfolge mehr wertschätzen.»
Möglich, aber unsicher, ob hier eine Annäherung gelingt. Und im besten Fall ein Zusammenspiel – wie bei der Jungpartei, den Jungen Grünen. «Wir wollen die Anliegen der Strasse ins Parlament tragen», sagt Kopräsidentin Magdalena Erni. Zwar macht sie sich Sorgen über den Rechtsrutsch, über das Wahlresultat ihrer Jungpartei kann sie sich aber nicht beschweren: «Es schaut so aus, als wären wir die erfolgreichste Jungpartei der Schweiz», sagt die zwanzigjährige Thunerin. Eine einheitliche, professionelle Kampagne sei das Fundament gewesen, sagt sie. Und eine Botschaft, die bei den Leuten immer gut ankommt: dass die Probleme von den Reichen und den Konzernen ausgehen. «Die Klimakrise ist eine Krise der sozialen Gerechtigkeit», sagt Erni, «das müssen wir immer wiederholen.»
Kommentare
Kommentar von julijan51
Do., 26.10.2023 - 01:01
Bei sozialpolitischen Themen müssen die Grünen selbständiger werden und eigene Ideen formulieren. Es gibt in diesem Bereich mehr zu beklagen als nur den Kaufkraftverlust, die steigenden Krankenkassenprämien und die zunehmend unbezahlbareren Wohnungen. Und auch in den Medien müssen grüne Anliegen klarer und mit dem Label GP an die Öffentlichkeit dringen. Vielleicht hat man sich da auch zu stark auf die sog. sozialen Medien konzentriert und verlassen. Und mir sind in dieser Wahlperiode kaum grüne Vertreter:innen begegnet.