Pop: Die Swiss Condition
Die Wette läuft: Schafft es die tamilische Sängerin Priya Ragu aus dem Toggenburg in Popmärkten ausserhalb Europas? Mit schweiztypischen Qualitäten und auch Schwächen?
«Santhosam», Tamil für Glück, ausgesprochen «Sandohscham» mit Betonung auf der zweiten Silbe, heisst nun das neue Album des Schweizer Popexports Nummer eins: Priya Ragu. Die Musik ist nicht so einfach, wie man es auf diesem Level des Marketings erwarten könnte, und das ist schon mal super.
Beim Durchlaufenlassen über den Bürocomputer: Hm, die hart auf die Perkussion und das Stakkato der kurzen Silben gefrästen Tracks wie «Goose» oder «Adalam Va!», beides Singles, stechen selbst da heraus. Der Rest tendiert, beim ersten Hören, zu internationaler R’n’B-Produktion. Könnte das ein paar Jahre alt sein, vielleicht auch dreissig, weil so vieles an britischen House Pop aus den Neunzigern erinnert? Manchmal konkret an Disclosure, die vor gut zehn Jahren UK Garage neu inszenierten. Oder an Beyoncé vor einem Refrain. Und das klackernde Geräusch der entsicherten Waffen ruft M. I. A. auf, wie Ragu aus Sri Lanka, aber im Westen berühmt geworden.
Zu Hause schallt «Santhosam» aus den guten Vintageboxen, die Quelle bleibt Streaming und Laptop. Der Mix kling jetzt matschig. Die langsameren, poppigen Tracks wie «Uyire» setzen sich dennoch durch. Auch der letzte, melodiöse Song greift gut nach der Aufmerksamkeit, «Mani Osai», den Priya Ragu ganz auf Tamil und so hoch und mädchenhaft singt wie selten (sonst klingt ihr Alt wie feines Schleifpapier, aber doch kräftig).
Andere Territorien
Dann dämmert es: Die harten und die freundlichen Tracks dringen, egal wo, durch, so muss das sein. Und der Rest wächst im Kopfhörer zu total bunten Wimmelbildern. Eigentlich ist da viel zu viel los für ein Album mit so viel Ehrgeiz. Auch das ist ungewöhnlich. Aber wie konnte es so weit kommen? Was ist der Zeit geschuldet und was der Musik selbst, dass eine Schweizer Sängerin von gut 37 Jahren «steil geht» – also, vielleicht?
In der Deutschschweiz haben sich kürzlich viele Journalist:innen ausgiebig an ihre eigene Jugend erinnert, weil DRS 3 vor vierzig Jahren auf Sendung ging. Trotz der warmen, biografisch erhitzten Gratulationsstürme gibt es zwei Momente aus jener Zeit, die in die helvetische Popaktualität führen.
Erstens, und das ist ein Argument gegen die Radionostalgie: Der öffentliche Popsender mit kaum Konkurrenz, einer erst entstehenden Popkritik in den Zeitungen und ohne Internet hatte zu viel Macht über die überschaubaren helvetischen Musikkarrieren. Wir wissen es nicht genau, aber gut möglich, dass die Familie Ragupathylingam etwa zu dieser Zeit aus dem Norden Sri Lankas floh wie so viele Tamil:innen. In ihrem Fall erst nach Deutschland, dann in die Schweiz.
Im Toggenburg kam 1985 die Tochter Priya zur Welt, die jetzt als Priya Ragu bei Warner England unter Vertrag steht. Warner ist die kleinste der drei verbliebenen globalen Musikfirmen, aber die Richtung ist auch so klar: Die Schweiz bleibt marginal, es geht um andere Territorien, wie das im Geschäft heisst. Um England, um die USA, vielleicht um Indien. Die ehemalige Vorherrschaft des Radios spielt bei Priya Ragu wohl zum ersten Mal keine Rolle mehr; sie musste sich nicht erst auf dem heimischen Markt durchsetzen.
Zweitens hat nicht zuletzt das Radio den Schweizer Popzustand am Leben gehalten: Dieser Musiker oder jene Band sei «kurz vor dem Durchbruch», war oft zu hören. Man liest es auch bei Ragu wieder, manchmal steht da schon «nach» dem Durchbruch. Obwohl internationaler Erfolg so fern wie nie liegt, weil, seit es Streaming gibt, kaum Künstler:innen unter fünfzig an die Spitze kommen, ausser sie heissen Taylor Swift, Adele, The Weeknd, Drake.
Schweizer Feinschliff
Aber vielleicht heisst Durchbruch in Ragus Fall: die Schweiz überschreiten. Das stimmt zum einen. Die Tournee im Frühling in den USA, England und Europa führt sie in Säle mit Fassungsvermögen zwischen 400 und 800 Leuten. Das ist viel für eine Newcomerin auf einem anderen Kontinent. Zum andern hört sich das Album doch wieder sehr schweizerisch an (nicht nur, weil sie den Titel «Escape» auf der ersten Silbe betont, was charmant die Schweizerin verrät).
Die Produktion von Ragus Bruder Japhna Gold ist hochwertig, detailverliebt, abwechslungsreich. Vermutlich würde etwas weniger Handwerk es sogar erleichtern, in die grossen Playlists zu kommen. Darf man das schweizerisch nennen, dieses fast sture Festhalten am Feinschliff? «Power», im letzten Viertel des Albums, ist wohl die beste Visitenkarte für ihren Bruder: Ein Sechsertakt im Pianobass zieht sich durch den Track, zackige Streicher folgen, ein paar jazzig-spirituelle «Oh, oh, oh»-Kadenzen, und der bislang spärliche Beat wird nun dichter. Wow.
Im etwas weniger Guten typisch schweizerisch wirkt der dann doch recht gemütliche Gemischtwarenladen dieses Albums: mal ein bisschen edgy, dann geht es aber doch vor allem wieder ums Ferienmachen, Handyabschalten, Wegfliegen, vielleicht darum, in Indien ein Video zu drehen. Und auch immer wieder um ihre Wurzeln, klar.
So ist «Santhosam» sowohl musikalisch wie gesanglich, weniger textlich, ein aussergewöhnlich interessantes Album, das dennoch viel über die gut gebettete Gewöhnlichkeit seines Herkunftslands verrät, zumindest der einen Heimathälfte. Das nächste Album kommt bestimmt, und vielleicht findet es unterwegs in der Welt noch mehr Themen als Polizeigewalt im Toggenburg («Black Goose») und die nächste Flugreise («Vacation») der ehemaligen Einkäuferin für die Swiss.