Sachbuch: Engagierte Recherche im linken Sehnsuchtsort

Nr. 47 –

Auch wenn viele Ziele utopisch bleiben: Das selbstverwaltete Rojava, so macht Christopher Wimmer in seinem lesenswerten Buch klar, kann als ein Wunder unter schrecklichen Bedingungen gelten.

Die «Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien», wie sich die kurdisch initiierte Selbstverwaltung in Rojava heute pluriethnisch-korrekt selbst bezeichnet, spielt in den TV-Nachrichten nur noch selten eine Rolle. Als der Islamische Staat (IS) 2014/15 in Syrien und im Irak sein Kalifat errichtete, war das noch ganz anders. Damals gingen Bilder bewaffneter kurdischer, assyrischer und jesidischer Frauen um die Welt, die sich der patriarchalischen Raserei mit eigenen Kampfeinheiten entgegenstellten. Für einen kurzen historischen Augenblick bekundete «der Westen» den Widerstandskämpfer:innen seine Dankbarkeit.

Heute bombardiert das Nato-Mitglied Türkei fast täglich die nordsyrische Selbstverwaltung und sorgt im besetzten Kanton Afrin sogar für ethnische Säuberungen, indem es seine islamistischen Verbündeten, darunter auch palästinensische Organisationen, gezielt als Siedler:innen einsetzt.

Demokratischer Leuchtturm

Doch auch wenn über Rojava nur noch selten gesprochen wird: Die pluriethnische Selbstverwaltung kontrolliert weiterhin etwa ein Drittel des syrischen Staatsgebiets. Christopher Wimmer, in Berlin lebender Journalist und Soziologe, hat für sein Buch «Land der Utopie?» die weitgehend abgeriegelte Region mehrere Monate lang bereist. Sein Ziel dabei war, ein realistisches und differenziertes Bild der gesellschaftlichen Veränderungen zu zeichnen. Denn Rojava, so Wimmer, diene vielen Linken nach wie vor als Projektionsfläche, «als Sehnsuchtsort für die eigenen Emanzipationshoffnungen».

Wimmer hat dafür eine Textform gewählt, die zwischen Reportage, politischer Analyse und ethnografischer Untersuchung oszilliert. Anhand von Begegnungen mit Zeitzeug:innen erzählt er nach, wie die kurdische Identität im arabisch dominierten Syrien unterdrückt wurde, warum der Rückzug der syrischen Sicherheitskräfte während der Demokratieproteste 2012 ein Machtvakuum eröffnete und mit welchen Mitteln kurdische Organisationen die Situation zu nutzen verstanden. Vor allem aber widmet sich Wimmer den gesellschaftlichen Veränderungen, die seither in der von etwa fünf Millionen Menschen bewohnten Region stattgefunden haben.

Denn dass Rojava vielen Linken als Hoffnungsort gilt, hat durchaus seine Berechtigung. Unter extrem schwierigen Bedingungen haben die Bewohner:innen der Region ein politisches System aufgebaut, in dem die lokalen Kommunen als zentraler demokratischer Ort verstanden werden und sämtliche Posten paritätisch mit Frauen und Männern besetzt sein müssen. Wimmer verschweigt nicht, dass dieses Rätesystem längst nicht so gut funktioniert wie vorgesehen: Es sei schwer, die Teilnahme über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten, der Führungsanspruch der kurdisch-syrischen Partei PYD stehe einer echten Basisdemokratie häufig im Weg, und der Personenkult um den inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan sei auch nicht gerade Ausdruck herrschaftsfreier Beziehungen. Dennoch, so Wimmers Fazit, kann die konföderale Selbstverwaltung als demokratischer Leuchtturm gelten.

Die wahrscheinlich grösste Leistung des Selbstverwaltungsexperiments besteht darin, die ethnischen Konflikte in Nordsyrien austariert zu haben. Die in der Region lebenden Kurdinnen, Araber, Assyrerinnen, Turkmenen, Armenierinnen, Tscherkessen und Jesidinnen müssen in den Institutionen nach festen Quoten vertreten sein. «Damit unterscheidet sich die Selbstverwaltung radikal von den nationalistischen Herrschaftsvorstellungen Assads, Erdogans oder anderer Regime im Nahen Osten», schreibt Wimmer. «Während diese danach trachten, unterschiedliche Kulturen und Sprachen zu assimilieren, sollen in Nord- und Ostsyrien alle Gruppen Raum erhalten, sich zu organisieren und auf allen Ebenen der Entscheidungsfindung teilhaben zu können.»

Keine Alternative zum Erdöl

Diese Plurinationalität hat in den letzten Jahren weiter an Bedeutung gewonnen, denn die türkische Besetzung kurdischer Siedlungsgebiete hat den Schwerpunkt der Selbstverwaltung in die mehrheitlich arabisch bewohnten Landstriche im Osten verlegt. Dass es der Selbstverwaltung überhaupt gelungen ist, in den jahrelang vom IS kontrollierten, arabischen Städten Fuss zu fassen, grenzt an ein Wunder.

Wimmers Buch macht deutlich, dass viele Ziele der Selbstverwaltung unerreicht geblieben sind. So hat sich beispielsweise an den ökonomischen Strukturen wenig geändert, und die Erdölverarbeitung in improvisierten Raffinerien dürfte kaum mit den ökologischen Ansprüchen der kurdischen Bewegung zu vereinbaren sein. Aber was wäre die Alternative? Der mit rudimentären Mitteln hergestellte Treibstoff ist die wichtigste Einnahmequelle der Gebiete. Bräche die Treibstoffversorgung zusammen, verlöre die Selbstverwaltung die Unterstützung der Bevölkerung und wäre finanziell am Ende.

Auch punkto Gesundheitsversorgung, Bildung und der ständigen Präsenz des Krieges ist die Realität in Rojava, wie Wimmer nachzeichnet, weit von einer Utopie entfernt. Und doch zeigt das Buch einen Lichtblick: Selbst unter schrecklichsten Bedingungen ist Emanzipation möglich. Einen differenzierten und empathischen Blick auf die Verhältnisse zu ermöglichen – das ist die grosse Leistung dieses hervorragend recherchierten und lesenswerten Buches.

Buchcover von «Land der Utopie? Alltag in Rojava»
Christopher Wimmer: «Land der Utopie? Alltag in Rojava». Edition Nautilus. 270 Seiten. 30 Franken.