Nordsyrien: Stockende Revolution in Rojava

Nr. 26 –

Rojava wird im Westen von vielen Linken als antinationalistisches Demokratieprojekt gefeiert. Vor Ort hat die anfängliche Euphorie mittlerweile Ernüchterung Platz gemacht.

Rojava – kurdisch für «Westen» – belebt den Revolutionsmythos innerhalb der internationalen Linken. Mit dem Namen ist Westkurdistan gemeint, das im Norden von Syrien liegt. Mitten im Krieg soll hier eine direkte kommunale Demokratie mit emanzipatorischen Zügen erprobt werden – ein antinationalistisches Projekt, in dem alle Minderheiten über sich selbst bestimmen können sollen.

Als die Dschihadgruppierung Islamischer Staat (IS) im Oktober die Stadt Kobane belagerte, sagte eine Rednerin an einer Demo in Basel: «Für uns Kommunisten, aber auch für alle, die für eine revolutionäre Perspektive kämpfen, ist es schwierig, hier zu bleiben.» Wenn sie die Bilder der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG und YPJ sehe, sei es «schwierig, sich nicht einzureihen und eine von ganz vielen zu werden, die eine sozialistische Perspektive unter schwierigsten Kriegszuständen erkämpften, entwickelten und jetzt mit der Waffe in der Hand verteidigen».

Auch viele AnarchistInnen sind begeistert. «Die Revolution in Rojava ist ein Signalfeuer», heisst es auf Anarkismo.net, einem internationalen anarchistischen Netzwerk: Rojava demonstriere wieder einmal die Fähigkeit von normalen Männern und Frauen, sich die Welt anzueignen und auch unter den schwersten Bedingungen zu verändern. Allerdings müsse sich erst noch zeigen, was daraus tatsächlich entstehe. Verblüffend ist, dass da Murray Bookchin mit keinem Wort erwähnt wird. Dabei gehören die Theorien des 2006 verstorbenen US-Anarchisten zum Fundament des neuen «demokratischen Konföderalismus», wie er in Rojava angestrebt wird.

Janet Biehl, die langjährige Lebensgefährtin Bookchins, reiste im Dezember in den Norden Syriens, um zu überprüfen, wie dessen libertäre Ideen umgesetzt werden. Sie war begeistert. «Die Macht fliesst von unten nach oben», sagte Biehl nach Abschluss ihrer neuntägigen Reise. Zudem seien die Menschen tapfer, gebildet und auf die Verteidigung der Revolution ausgerichtet. Diese sei basisdemokratisch, kooperativ und beruhe auf der Gleichheit der Geschlechter. «Die Menschen von Rojava zeigen der Welt», so bilanzierte Biehl, «zu was die Menschheit fähig ist.»

Zumindest eine kulturelle Revolution

Begonnen hatte es im Januar 2014. Da konstituierte sich Rojava als autonome Region mit drei selbstverwalteten Gebieten, die nach Schweizer Vorbild Kantone genannt werden: Efrin, Kobane und Cisire. «Demokratisches Selbstmanagement, an dem alle ethnischen und religiösen Gemeinschaften gleichberechtigt teilnehmen können», nannte es Akram Heso, der Präsident der Kantonsführung von Cisire, im Frühjahr letzten Jahres. Die Grundsätze dazu stehen im zwanzigseitigen «Gesellschaftsvertrag», an dem über fünfzig verschiedene Parteien und Organisationen der Region mitgearbeitet hatten. «Darin ist alles niedergeschrieben», erläuterte Heso in seinem riesigen Büro, das zugleich als Konferenzraum genutzt wird. «Wahlen, Parlament und Menschenrechte. Niemand kann daran rütteln.» Von einer sozialen Revolution ist da allerdings kaum etwas zu lesen. Jedenfalls sind die herkömmlichen kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen noch nicht angetastet worden.

Die Kantonsführung von Cisire hat ihren Sitz aus Sicherheitsgründen in der Kleinstadt Amude. Diese liegt 25 Kilometer von Kamischli entfernt, der Hauptstadt Cisires. Dort gibt es noch Militärbasen des syrischen Regimes. Die beiden Verwaltungsgebäude in Amude befinden sich in einem ehemaligen Kulturzentrum, das komplett renoviert wurde. Hier arbeiten ein legislativer und ein exekutiver Rat. Sie sind nach dem Prinzip der Gewaltenteilung unabhängig voneinander und unter jeweils eigenständiger Leitung. Grundsätzlich sind alle Führungspositionen mindestens doppelt besetzt, und zwar immer auch durch eine Frau. Es ist ein Modell, das nicht nur in der Region, sondern auch in Europa seinesgleichen sucht. Bei den wichtigsten Ämtern wie dem der Präsidentschaft oder dem Vorsitz der beiden Räte gibt es drei EntscheidungsträgerInnen. Sie repräsentieren die drei grossen ethnischen Gemeinschaften Rojavas: Kurden, Araberinnen und assyrische Christen.

Zur assyrischen Gemeinschaft gehört etwa Elisabeth Gaurie. Die bald fünfzigjährige Christin, die sich auch für die Emanzipation der Frauen starkmacht, ist eine von zwei StellvertreterInnen des Präsidenten von Cisire. «Mit unserer jahrtausendealten aramäischen Kultur und Sprache sind wir eine eigenständige Ethnie und wollen als solche anerkannt werden», sagt Gaurie. Ein wichtiger Schritt dahin war, dass die neue Regierung Aramäisch und Kurdisch zu offiziellen Sprachen erklärte und dem Arabischen gleichstellte. Das ist zumindest schon mal eine kleine kulturelle Revolution: In Syrien sind Kurdisch und Aramäisch nicht anerkannt.

In Amude gibt es dreizehn Quasiministerien, die hier Komitees genannt werden, etwa für Innen- und Aussenpolitik, Soziales, Arbeit und Wirtschaft. Mit den anderen beiden Kantonen, Efrin und Kobane, befinde man sich in ständigem Kontakt, so Präsident Heso hinter seinem grossen Schreibtisch. Bisher konnte nur über Skype konferiert werden, da das syrische Kurdistan kein zusammenhängendes Gebiet war. Seit die YPG letzte Woche die Stadt Tall Abyad vom IS zurückerobert hat, ist das nun anders.

Was machen die in den USA?

Zumindest in den ersten Monaten des «demokratischen Selbstmanagements» war die Euphorie bei fast allen gross. «Nach mehr als vierzig Jahren Assad-Regime ist unser demokratisches Projekt absolut revolutionär», meinte vor einem Jahr Regierungssprecher Gabriano Hanno in Amude. Er war Aktivist der assyrischen Gemeinde und früher ein vehementer Kritiker der PYD, der kurdischen Partei der Demokratischen Union, die wiederum der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in der Türkei nahesteht. «Früher wären wir bei der geringsten Kritik verhaftet worden», sagte der 25-Jährige, der sich inmitten der Bürgerkriegswirren gerade verlobte. «Die PYD hat sich zum Positiven verändert», sagte Hanno damals. «Die Kurden wissen, dass sie nur zusammen mit den ethnischen Minderheiten etwas erreichen.» Und wären die kurdischen Milizen nicht gewesen, dann hätte es «ein Blutbad gegeben, und wir befänden uns jetzt in einem islamistischen Emirat». Tatsächlich ist es vor allem der YPG zu verdanken, dass Rojava nicht längst von radikalen IslamistInnen überrollt wurde.

Doch mittlerweile wächst bei vielen Beteiligten die Kritik rund um das Projekt Rojava. Dabei geht es vor allem um die kurdische Partei PYD und ihre Miliz: «Sehen Sie, drei kurdische Regierungsvertreter wurden nach Washington geschickt, und niemand weiss, was sie dort tun», erzählte Gaurie, die stellvertretende Präsidentin, im März dieses Jahres. «Mit Transparenz in einer Demokratie hat das nichts zu tun», wiederholte sie mehrfach in einem Nebenraum des assyrischen Kulturzentrums von Kamischli. Und das sei nur eines von vielen negativen Beispielen. Auch von kurdischer Seite kommt Kritik auf: «Bei den Versammlungen in Stadtteilen und bei Bezirkstreffen dominiert die PYD», sagt ein kurdischer Anwalt aus Kamischli. Er will anonym bleiben, weil er sonst Repressalien befürchtet, wie er sagt. «Die Interessen der Partei gehen immer vor, ob man im Recht ist oder nicht. Da kann man nichts machen.» Dabei wäre gerade die Kommunalebene das Herz des basisdemokratischen Projekts Rojava.

Ethnische Säuberung durch die PYD?

Die PYD ist eine hierarchisch strukturierte Partei. Vieles erinnert, wie bei ihrer Mutterpartei PKK, an die ehemalige SED der DDR. Da ist der Führerkult um den PKK-Gründer Abdullah Öcalan, dessen Poster in jedem Büro, jeder Polizeistation und jedem Militärstützpunkt, aber auch in vielen Wohnzimmern hängt. «Für Apo (Onkel)», brüllen die SoldatInnen an der Front, um sich Mut zu machen. Von Öcalan, der seit 1999 in der Türkei inhaftiert ist, stammt die Losung des «demokratischen Konföderalismus». Der 67-Jährige hatte die Schriften des Anarchisten Bookchin gelesen und befunden, es sei Zeit, vom stalinistisch geprägten Marxismus Abschied zu nehmen. Aus dem Knast verordnete Öcalan den Umbau zu einem libertären Gesellschaftsmodell.

«Die Partei ist wie eine Familie», sagt ein PYD-Mitglied, ebenfalls nur anonym. «Wenn man die Regeln der Familie akzeptiert, regelmässig seinen Obolus bezahlt und für die Partei da ist, kann man immer auf ihre Unterstützung zählen. Nur Widerspruch ist unmöglich.»

«Wenn Journalisten für Medien mit politischer Agenda tätig sind, die mit den Interessen der PYD kollidieren, kommt es zu Problemen», sagt Siruan Hadsch Hossein. Er ist der Manager von Arta FM, einem in Amude ansässigen multikulturellen Radio, das von verschiedenen regierungsunabhängigen Organisationen in Europa und den USA unterstützt wird. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) hatte in ihrem Bericht vom Juni 2014 willkürliche Verhaftungen von KritikerInnen der PYD, Misshandlungen während der Haftzeit, ungeklärte Entführungen und Morde dokumentiert. Hinzu komme die Wehrdienstpflicht, von der auch Fünfzehn- und Sechzehnjährige betroffen seien.

Der schwerste Vorwurf lautet, die kurdische Führung betreibe ethnische Säuberungen. Die PYD soll bei ihrem Vormarsch auf Tall Abyad gezielt AraberInnen aus ihren angestammten Gebieten vertrieben haben. Das behauptete die britische Zeitung «The Times» und berief sich dabei auf «die grösste humanitäre Hilfsorganisation in Syrien», ohne aber einen Namen zu nennen. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, hinter der syrische Oppositionelle stehen, berichtete Anfang Juni von der Ermordung von zwanzig arabischen ZivilistInnen und der Zerstörung einer Reihe von arabischen Dörfern in der Region von Kobane durch die YPG. Schliesslich beschuldigten fünfzehn syrische Rebellengruppen in einer gemeinsamen Erklärung die YPG, «eine Aktion der ethnischen Säuberung gegen Araber und Turkmenen zu führen, die Zivilisten terrorisiert und sie zur Flucht aus ihren Dörfern treibt».

Der Vorwurf systematischer ethnischer Säuberung scheint übertrieben zu sein. Die WOZ konnte Anfang März in der Provinz Hasaka aber einzelne arabische Dörfer sehen, die dem Erdboden gleichgemacht worden waren. «IS-Unterstützer» hätten dort gewohnt, wurde als Begründung angegeben. Selbst wenn das stimmt: Solche «Einzelfälle» passen nicht zu den idealisierten Vorstellungen einer antinationalistischen Revolution.

Man kann sich aber auch an die am 14. Juni veröffentlichte Erklärung des kurdischen Oberkommandos halten. Darin heisst es, alle Vorwürfe seien unwahr und nur ein Komplott, um die tatsächliche Realität zu verschleiern und die Einheit der lokalen Bevölkerung zu zerstören. Das kennt man zur Genüge von allen beteiligten Parteien des syrischen Kriegs: Statt aufzuklären, liefert man Verschwörungstheorien.