Giulin Stäubli: Der Rest in den Köpfen

Nr. 48 –

Der Berner Performancekünstler Giulin Stäubli ist an der Bühnenkante aufgewachsen. Im Alltag verschwindet er lieber unbemerkt durch die Hintertür.

Performance von Giulin Stäubli
Kleinbürgerliches Outdoorabenteuer mit Schikanen: Giulin Stäubli. Foto: Yoshiko Kusano

«Dongdongdong» macht der Gabber: eine Tanzmusik mit vielen Beats pro Minute, zwischen 150 und 190. Giulin Stäublis Tänzerherz schlägt mit, wie er durch die Eröffnungssequenz seines Solostücks hoppelt und sich in Repetitionen verfängt. Wenig später mimt er eine Raubkatze, und plötzlich steckt er, lediglich mit Velohose bekleidet, recht unvorteilhaft in einer Regenpelerine fest. Neben ihm auf der Theaterbühne: das Zelt, ein Lagerfeuer und teure Funktionsmode. Irgendwie so war das doch?

«Ich nenne es Bewegungsperformance», sagt Stäubli auf die Frage, was da auf der Bühne vor sich gehe. «Das sagt zwar nicht viel aus, aber es ist sicher nicht falsch.» Er macht vorsichtige, klare Sätze, und manchmal sagt er «Dings» oder formuliert ein langes ­«eh-mm-nn» oder ein ähnlich unmissverständliches Partikelchen Zweifel. «Der Ausflug», sein zweites längeres Soloprogramm, verzichtet grösstenteils auf gesprochenen Text, es rückt die Bewegung ins Zentrum und mit ihr das Possenreissen und Geräuschemachen. Lose um die Szenerie eines kleinbürgerlichen Outdoorabenteuers sortiert, entziehen sich die einzelnen Figuren und Sequenzen einer allzu narrativen Betrachtung. Kritik am Mittelstand, der sich all das teure Zeug aussucht, um ab und zu einen Hügel zu erobern? So schablonenhaft möchte Stäubli seine Auslage nicht verstanden wissen: «Höchstens ist es ein Piksen, da und dort. Der Rest darf in den Köpfen des Publikums passieren.»

In den Köpfen passiert – so der Eindruck nach der Aufführung – sehr Verschiedenes, Uneindeutiges, auch einiges vom Wind dieser Tage. Jemand fühlte sich durch die Choreografie an eigene pathologische Zwangshandlungen erinnert. Eine andere Person wünschte sich die besagte Tanzszene an den Schluss. Und wo einer fragte, ob das Thema genug relevant sei angesichts der Kriege auf der Welt, gab eine andere recht entschlossen hinterher: «Gehört er nicht sowieso abgeschafft, der weisse männliche Clown?»

Fehl am Platz

Giulin Stäubli freut sich über die Kritik. Dass sich die Deutungsebenen öffnen. Auch schön: wenn dabei Dinge herauskommen, die man selber vielleicht gar noch nicht gedacht hat. Oder wieder verstaut im Unbewussten, dem tänzerischen Muskelgedächtnis: So habe er sich zwar tatsächlich einmal choreografisch mit Zwangserkrankungen beschäftigt, aber für sein Soloprogramm habe er darüber nicht mehr nachgedacht.

Aufgewachsen ist er, wenn man so will, an der Bühnenkante – mit Eltern, die selbst als Schauspieler:innen arbeiten, und einem Bruder, der über die Hochschule zum Schauspiel und zur Musik gekommen ist. Stäubli dagegen blieb Autodidakt in diesem künstlerischen Familienklima. Er habe sich die Ausbildungsmöglichkeiten schon angesehen, den besagten «Tag der offenen Tür» bilanziert er mit einem seiner lang gezogenen Zweifelgeräusche. So macht er ohne Studium weiter: sitzt am Schlagzeug, improvisiert mit Jazzmusiker:innen, tanzt. Das Gefühl, fehl am Platz zu sein, begleitet ihn dabei. «Ich habe noch immer Probleme, das Kunstmachen als Arbeit zu sehen oder an einem Tisch in der Beiz zu behaupten: Ich bin Tänzer.» Obwohl sein Beruf natürlich sehr anstrengend sein könne: «Am Abend kommst du aus der Probe und hast einen leeren Kopf. Oder einen viel zu vollen – wie jeder Büezer auch.»

Wie roh darfs sein?

«Der Ausflug» scheint jetzt nur ein Parcours zu sein von vielen, die auch möglich wären für ihn, auf seiner Suche nach einer künstlerischen Sprache, die sich dem Eindeutigen entzieht. Und die an einem schlechten Abend vielleicht etwas gar brüchig, etwas zu dünn aufgetragen scheint für die krachenden Bedürfnisse des Diskurstheaters. Eine Frage, die Stäubli umtreibt: «Wie roh kann ich etwas auf die Bühne bringen, sodass es immer noch funktioniert?»

Denn auf der Bühne habe er keine Angst, sich auszuprobieren und dem Publikum auszuliefern. Da fühle er sich sicher. «Im Alltag nehme ich aber gern die Hintertür und sage lieber zu wenig als zu viel.» Es könne vorkommen, dass er im Tram, von einem Schweissausbruch heimgesucht, nicht an der angepeilten Haltestelle aussteigen könne, plötzlich blockiert im Gewirr des Pendlerverkehrs. «Dann laufe ich eben manchmal einen Umweg», sagt er.

Vielleicht ist Giulin Stäubli gerade einer jener wenigen «weissen Clowns», denen der Platz auf der Bühne umso mehr zusteht, weil er Räume eher behutsam erschliesst, statt sie zu unterwerfen. In der Neugier am Skurrilen und der Freude am Stillen, Kleinen, Krummen und Feinen kann das durchaus als antihegemonialer Kunstzugriff verstanden werden.

Fehl am Platz findet sich letztlich auch der Campierer auf dem «Ausflug» wieder. Der Regen macht ihm das Leben schwer, und eine Stimme aus dem Off versucht, den Eindringling zu verscheuchen. Die Figur des lächerlichen Naturtouristen bleibt standhaft in ihrem ständigen Scheitern, zu wenig weit hat sie sich von der Zivilisation und ihren zivilen Polizisten absetzen können, zu wenig hoch hinaus hat sie es geschafft. In einer anders imaginierten Version des Stücks würde sie darüber schliesslich Gabber tanzen.

«Der Ausflug» von und mit Giulin Stäubli. In: Winterthur, Theater am Gleis. Samstag, 2. Dezember 2023, 20 Uhr; Sonntag, 3. Dezember 2023, 19 Uhr. www.theater-am-gleis.ch