Die Welt dreht sich: Die Postkarten­versuchung

Nr. 50 –

Rebecca Gisler bestaunt sich duellierende Eier

An einem regnerischen Tag besuchte ich das Musée de Flandre in Cassel. Cassel ist eine kleine Stadt im Département Nord in Frankreich, die für das berühmte Musée de Flandre bekannt ist, das unter anderem Werke von Pieter Bruegel dem Älteren und Hieronymus Bosch beherbergt. Dort entdeckte ich an jenem Tag eine interessante Darstellung der Versuchungen des heiligen Antonius, die einem anonymen flämischen Künstler aus dem 16. Jahrhundert zugeschrieben wird.

Die Geschichte der Versuchungen des heiligen Antonius beruht auf zwei Quellen: der Originalgeschichte, die der heilige Athanasius kurz nach dem Tod des heiligen Antonius niederschrieb, und der goldenen Legende von Jacobus de Voragine aus dem 13. Jahrhundert. Dieses von Malern wie Salvador Dalí, Hieronymus Bosch, Matthias Grünewald sowie von Gustave Flaubert immer wieder aufgegriffene Thema ermöglicht es, die Heldentaten des Heiligen zu verherrlichen, der den Tricks des Satans und Todsünden wie Habgier oder Wollust widersteht.

Auf dem Gemälde in Cassel ist der heilige Antonius kniend und betend zu sehen. Wie bei allen Darstellungen dieser Art ist das brennende Haus im Hintergrund ein Hinweis auf das Antoniusfeuer (auch Mutterkornvergiftung genannt), eine Krankheit, an der im 16. Jahrhundert ein Teil der Bevölkerung litt: Die Kranken beschworen den Heiligen in der Hoffnung, geheilt zu werden. Trotz der Fantasiefiguren, die überall auf dem Bild verstreut sind, wurde meine Aufmerksamkeit von einem wundervollen Detail angezogen: einem Duell zwischen zwei Eiern im Hintergrund. Eines der Eier, das mit einem Bogen ausgestattet ist, schiesst einen Pfeil in die Eierschale seines Rivalen. Von diesem Detail fasziniert, versuchte ich, es mit meinem Handy von oben und von unten zu fotografieren. Vielleicht hoffte ich, da ich an diesem Tag mit einigen emotionalen Turbulenzen zu kämpfen hatte, auf Heilung, indem ich mich wie im 16. Jahrhundert vor dem heiligen Antonius verbeugte.

Ich gehöre zu den Menschen, die bei einem Museumsbesuch das Bedürfnis verspüren, nach dem Besuch sogleich in den Museumsshop zu gehen, um die ausgestellten Werke als hübsche Postkarten zu kaufen, die dann in einer Schublade versinken. Ich kann nicht genau sagen, warum mir der Kauf dieser Art von Postkarten so viel Freude bereitet. Ist es vielleicht der Umstand, dass ich zu wissen glaube, dass diese Werke im 16. Jahrhundert auch nicht dazu bestimmt waren, in Museen zu hängen? Im Museumsshop angekommen, war es jedoch unmöglich, auch nur eine einzige Postkarte zu finden. Stattdessen bezirzten mich die Wesen der Versuchungen des heiligen Antonius in Form von Aufklebern mit humanoiden Vögeln, bedruckten Tote Bags, Tassen und Mousepads, auf denen unter anderem seltsame Nonnen, begleitet von Soldaten in Fischköpfen, in einem Fluss badeten.

Obwohl die Reproduktionen alle verpixelt und unscharf waren, entschied ich mich dennoch, eine Tasse zu kaufen: Für die Summe – und darauf bin ich nicht stolz – von dreissig Euro erwarb ich das letzte oder einzige Objekt mit einem eingezoomten Abbild der kämpfenden Eier.

Erfreut und ein wenig aufgeregt beobachtete ich, wie die Verkäuferin die Tasse in Luftpolsterfolie wickelte, obwohl diese, da bin ich mir sicher, weder mich noch meine Tasse vor den alltäglichen Dämonen schützen würde.

Rebecca Gisler ist Autorin und Übersetzerin. Im Oktober residierte sie einen Monat im Norden Frankreichs zwischen englischen Friedhöfen und flämischen Gaststätten.